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Nullzeit

Nullzeit

Titel: Nullzeit
Autoren: J Zeh
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Wie die meisten Touristen waren sie in Urlaubslaune und hatten nicht den Eindruck, dass ihnen irgendetwas auf der Welt die Freude am Tauchen verderben könnte. Die Casa Raya fanden sie hinreißend.
    Am Dienstag stieß Ralph zu uns, ein Stammkunde und erfahrener Taucher, der mich schon seit Jahren besuchte. Ab Freitag hatte ich noch eine Familie mit Kindern zum Schnuppertauchen, so dass ich in zwei Schichten arbeiten musste. Ich warnte alle vor organisatorischen Problemen. Es gab keine. Abends fuhr ich so früh wie möglich nach Hause, um Flaschen zu füllen und die komplette Ausrüstung zu waschen. Ich beantwortete E-Mails und erledigte die Buchführung. Ich arbeitete bis spät in die Nacht. Nach dem Wochenende fand ich einen Zahlungseingang in Höhe von 14.000 Euro auf meinem Konto. Betreff: »Tauchausbildung wegen Casting Lotte Hass«. Ich starrte so lange auf den Eintrag, bis die Webseite mir mitteilte, dass man mich aus Sicherheitsgründen ausgeloggt habe.
    Ständig dachte ich an Jola und ihren Plan. Schlug immer wieder das Tagebuch auf. Solange es mir gelang, Jola zu bewundern, schwieg die Angst. Einmal wählte ich ihre Handynummer. Die Nummer existierte nicht mehr. Nach dem Versuch war ich nass geschwitzt wie nach einem Marathonlauf. Von Jolas Facebook-Seite erfuhr ich, dass eine neue Staffel AuA geplant war. Über Theo erfuhr ich nichts.
    Weihnachten verging, ohne dass etwas passierte. An Silvester hatte ich Kunden und ging vor Mitternacht ins Bett. Das neue Jahr hieß 2012. Eine Ziffer wie jede andere. Am Neujahrsmorgen blieb ich nach dem Frühstück noch eine Weile sitzen. Auf den Tag genau waren vierzehn Jahre vergangen, seit ich Deutschland verlassen und mein Leben auf der Insel begonnen hatte. Vierzehn Jahre. Eine unvorstellbare Zeitspanne. Ich dachte an den Tag des Mordanschlags, genauer gesagt, an eine ganz bestimmte Sekunde dieses Tages, und wurde plötzlich von einem Gefühl der Dankbarkeit überflutet. Mit einem Mal erschien mir diese Sekunde als der wichtigste Moment meines Lebens. Ich hatte gezögert, Theos bewusstloses Unterwassergesicht betrachtet und an Jola gedacht. Dann hatte ich mich entschieden. Ich hatte Theo nicht auf den Meeresgrund sinken lassen, sondern ihm das Leben gerettet. Die Dankbarkeit für diese Entscheidung trieb mir die Tränen in die Augen. Ich saß vor meiner leeren Kaffeetasse und weinte. Danach konnte ich durchatmen. Etwas hatte sich verändert. Ich musste nur an dieses Zögern zurückdenken und spürte, dass ich ein anderer geworden war. Ich verstand nicht mehr, warum ich den Begriff »raushalten« vierzehn Jahre lang so attraktiv gefunden hatte. Es war ein hässliches Wort. Als ich ins Auto stieg, um zum Tauchen zu fahren, ging es mir besser. Auf eine grundsätzliche Weise.
    Im Januar war wie immer Flaute. Wer macht schon Urlaub kurz nach Neujahr. Nur ein paar Rentner, Singles und Freiberufler. Am ersten Samstag des Jahres reiste eine einzelne Kundin an. Sie hieß Katja und war Strafverteidigerin, spezialisiert auf Kapitalverbrechen wie Mord, Totschlag und Vergewaltigung. Wir verstanden uns von Anfang an. Am ersten Abend lud ich sie zum Essen ein. Am zweiten Abend schliefen wir miteinander. Sie war über vierzig und entsprechend gierig. Lange lutschte sie meinen Schwanz. Schließlich setzte sie sich auf mich und ritt mich wie ein erfahrener Jockey ins Ziel. Am dritten Abend unterschrieben wir einen Vertrag, der sie an die Schweigepflicht band und ihre Honorarforderung mit den Kosten des Advanced Open Water Divers sowie eines Nitrox-Scheins verrechnete.
    Ich erzählte ihr die ganze Geschichte. Während ich sprach, musste ich an mich halten, um nicht zu heulen. Erst jetzt merkte ich, wie sehr mich die vergangenen Wochen erschöpft hatten. Das Schweigen. Das Warten. Die Fragen. Ich konnte nicht mehr. Ich beschrieb Katja, wie sich Jolas Plan in Endlosschleife durch meinen Kopf drehte, wie ich nicht aufhören konnte zu fragen, was passiert war, wie meine Besessenheit mich von innen auffraß. Sie sagte, dass sie Anwältin und kein Psychiater sei, und dass ich mich zusammenreißen solle. Ich gab ihr das Tagebuch. Sie las so schnell, dass es aussah, als blättere sie nur oberflächlich die Seiten durch. Als sie fertig war, blickte sie auf.
    »Und was davon stimmt?«
    »Am Anfang viel, in der Mitte wenig und am Ende gar nichts«, sagte ich.
    Sie lächelte: »Einer von euch beiden ist genial.«
    »Was soll das heißen?«, fragte ich. »Glaubst du mir etwa nicht?«
    »Du hast mich
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