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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen
Autoren: Richard Swartz
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und auf welchem Kontinent er sich auch befand, immer einen Teil seiner Persönlichkeit ausgemacht hatte, war hier zum Hindernis geworden: Form wurde in dieser Gesellschaft nicht geschätzt, die so lärmend damit beschäftigt war, stattdessen Inhalte zu schaffen, ein Glücksreich mit heulenden Fabriksirenen, Paraden, Grammofonen, beschwipsten Frauen in Abendkleidern, Tanzmusik, verschütteten Drinks, qualmenden Zigarren oder Schornsteinen und wogenden gelben Kornfeldern, bereit, von einer Armee von Mähdreschern gemäht zu werden, eine Gesellschaft, die sich in das Unersättliche und Endlose gestürzt hatte, ohne einen Gedanken an andere Grenzen als jene, die überschritten werden sollten.
    Seinerseits hatte der Mann ein anderes Verhältnis zu Begrenzungen. Hatte er früher, in Europa, ein Bedürfnis nach Grenzen verspürt, so hatte er sie selbst gezogen. Aber hier war er ohne eigenes Verschulden zu einem in allem Wesentlichen begrenzten Menschen geworden, wo nicht er selbst, sondern andere es waren, welche diese Grenzen zogen. Das hatte ihn bitter gemacht. Aber der Mann ahnte, dass auch dies ein Teil dessen war, was man als Strafe für ihn ersonnen hatte.
    Nach Amerika war er ja geschickt worden, um gezüchtigt zu werden, damit all seine Forderungen und Erwartungen enttäuscht würden, all seine Gepflogenheiten beschnitten und vermutlich ausgelöscht, um entdecken zu müssen, wie leicht es ist, ganz unten zu landen, und wie widerwärtig es ist, dort bleiben zu müssen, und das meiste von diesem Teil der Strafe hatte er sehr früh und ohne größere Anstrengung erkannt; es hatte gereicht, sich gegen Ende des Tages die sechzehn Stockwerke hinunterzubegeben, um dort, auf dem Trottoir stehend, zum Abendbrot einen sogenannten hot dog oder hamburger zu verzehren.
    Mehr als das hatte es nicht gebraucht, um ihn daran zu erinnern, wie weit unten am Boden er sich befand, im Gedränge auf der Straße unter vollkommen fremden Menschen, alle in der Abenddämmerung irgendwohin unterwegs, die ihn hin und her schubsten, während er mit Hilfe der Finger versuchte, sich den Mund mit etwas vollzustopfen, was mittlerweile sein sogenanntes Abendessen war, diese Mahlzeit, die früher die wichtigste des Tages gewesen war, aber damals auf einem weißen Tischtuch mit Silberbesteck und Serviette von einem Hausmädchen serviert, und doch konnte der Mann nicht leugnen, am allerwenigsten vor sich selbst, wie gut das schmeckte: also dieser hot dog oder hamburger .
    Vorsichtig sah sich der Mann um, obwohl es überflüssig, fast lächerlich war, hier gab es ja niemanden, der ihn kannte. Innerhalb kurzer Zeit hatte er gelernt, dieses amerikanische Essen, im Stehen auf der Straße verzehrt, zu lieben, obwohl er es proletarisch fand und sich immer noch dafür schämte.
    Aber vor wem hätte er sich hier schützen müssen?
    In solchen Augenblicken konnte es geschehen, dass er von einer Vereinigung seiner beiden Welten träumte. Ja, es waren immer noch zwei, denn diesen letzten Rest von europäischem Misstrauen und seiner Nüchternheit hinsichtlich der eigenen Lage aufzugeben, zu leugnen, dass er aus Europa verbannt war, und zwar vermutlich fürs ganze Leben, war ihm erschienen, als würde er sich ein für alle Mal diesem Amerika unterwerfen, mit seiner kindlich optimistischen Überzeugung davon, dass alle Träume sich verwirklichen lassen; und dieser sein Tagtraum, vielleicht doch das Beste aus zwei Welten vereinen zu können, hatte seinen Weg zu ihm durch den Mund gefunden.
    Er kaufte noch einen hot dog .
    Bald würde seine Frau nach Amerika nachkommen, davon und von nichts anderem handelten alle ihre Briefe. Im letzten hatte sie von ihrem Wunsch geschrieben, bald hier zu sein, »… mit der Ankunft einer neuen Jahreszeit, die mich daran erinnert, wie lange ich meinen geliebten Mann entbehrt habe, und an den großen Schmerz, welcher diese Abwesenheit in meinem blutenden Herzen verursacht hat«.
    Schon wieder das blutende Herz!
    Und der Mann dachte an seine Frau und daran, wie sie in den Händen eines anderen Mannes verblutete, seines sogenannten Freundes, und wieder war es der Mund, der ihn inspirierte, als er plötzlich erkannte, dass seine Frau Amerika viel mehr zu bieten hätte als er selbst. Beispielsweise könnten Masthähnchen auf die gleiche Weise serviert werden, also auf einem solchen Spirituskocher an der Straße. Oder Pasteten. Die berühmte Hühnerleber seiner Frau könnte von diesen amerikanischen Menschenmengen verspeist werden, die jeden
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