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Notluegen

Notluegen

Titel: Notluegen
Autoren: Richard Swartz
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Abend irgendwohin unterwegs waren, einsame und rastlose Menschen, auf die kein gedeckter Tisch wartete, überhaupt kein Essen, arme Teufel, die vielleicht nicht einmal eine richtige Küche zu Hause hatten; und der Mann beobachtete in der Abenddämmerung, wie jeder dieser Menschen immerzu irgendwohin unterwegs war, ohne den geringsten Gedanken an einen von den anderen, die doch in genau derselben Lage waren, dieses Gewimmel von stummen und hungrigen Menschen ohne Küche daheim, nur auf sich selbst bezogen.
    Die Hühnerleber der Frau beschäftigte ihn auch am folgenden Tag, als er fast genau zur selben Zeit wie am Tag zuvor seinen hot dog am Stand unten an der Straße bestellte. Dieser bestand aus ein paar weißgestrichenen Brettern und einer schmalen, ebenfalls weißgestrichenen Theke, nicht viel mehr als ein Spirituskocher auf Rädern, aber während er seinen hot dog in den Mund steckte und es sich schmecken ließ, war der Mann an diesem Abend erfüllt vom Gedanken an Hühnerleber; seit gestern war diese Hühnerleber in seinem Kopf gewesen, wo sie die Form einer Geschäftsidee angenommen hatte, der allerersten, die ihm in Amerika gekommen war, etwas, das er zuerst mit einer gewissen Zufriedenheit festgestellt hatte, die aber bald in Irritation umgeschlagen war, war er doch immerhin lange genug in diesem Land, um sich etwas einfallen zu lassen, und als er sein Abendbrot in dieser amerikanischen Abenddämmerung verzehrt hatte, die von Neonlichtern und blinkenden Reklameschildern in Rot, Blau und Weiß erleuchtet war, so dass sie weniger melancholisch und statisch war, wenngleich auch weniger romantisch als eine europäische Abenddämmerung, steckte er die Finger in den Mund und lutschte einen nach dem anderen ab, schleckte in sich hinein, was von der dicken Soße aus Tomaten daran kleben geblieben war, sehr beliebt und gar nicht schlecht, und zusammen mit der amerikanischen Tomatensoße auch den amerikanischen Senf, der wie europäischer schmeckte, nur süßer, und als er fast fertig geschleckt hatte, war ein Finger, der Zeigefinger der linken Hand, im Mund stecken geblieben.
    An diesem Zeigefinger sog der Mann länger als eigentlich nötig, jedenfalls im Hinblick auf Senf und Tomatensoße, ein Finger, der in der Abenddämmerung kränklich weiß leuchtete, bis er endlich damit fertig war und die Hand hochhielt, um sie im Licht der Wurstbude zu mustern.
    Der Mann fand, der Finger gliche einem Spargel, obwohl die Saison für Spargel wie für Prinzessbohnen und Erdbeeren schon längst vorbei war, und es muss in diesem Moment gewesen sein, während er darüber nachdachte, wie es sich mit dieser Saison in Amerika verhielte, dass er diese Frau erblickte.
    Sie stand dicht neben dem weißgestrichenen Stand. Der Mann, der ihn betrieb, beugte sich über die Würste und die Frikadellen, um sie zu wenden oder sie eine Spur von links nach rechts zu schieben, es zischte von dem schwarzen Blech, während er mit einem großen Bratenwender vorsichtig alles herumschob, was sich gerade dort befand, und auch dieser Straßenverkäufer mit seiner dünnen, spitzen Nase war in Weiß gekleidet, in eine weiße Schürze mit einer weißen Mütze ohne Schirm, einer Art Schiffsmütze wie von einem Matrosen oder von der Art, wie man sie bei Lehrlingen in einer Bäckerei findet, und die Frau, die da in dem schwachen Licht der Wurstbude stand, hätte der Mann vermutlich überhaupt nicht bemerkt, wenn sie nicht auch ein weißes Kleid getragen hätte, das in der Dunkelheit leuchtete, und ihre beiden Augen waren aufgesperrt und kreideweiß bis auf die Pupillen; so schien es jedenfalls, wenn der Mann sie von der Seite und gleichsam unabsichtlich zu betrachten versuchte, ja, wirklich, ganz kreideweiß und ohne Scheu, fast unverschämt, war der Blick der Frau dem seinen begegnet, als hätte sie keine Augen für jemand anders unter all den Menschen gehabt, die vorbeihasteten, nur für ihn.
    Zuerst hatte das den Mann erstaunt. Hatte er Tomatensoße auf sein Jackett oder die Weste gekleckert? Oder (und das war beunruhigend) hatte sie gesehen, wie er seine Finger ableckte? Doch letzteres war ein allzu europäischer Gedanke; sofort verdrängte er ihn. Die Frau war neben dem Stand mit den Frikadellen und den Würsten stehengeblieben. Aber es sah nicht so aus, als wäre sie hungrig. Ohne anscheinend etwas Besonderes zu tun zu haben, stand sie da, unbeweglich, mit einer kleinen runden Tasche, die sie an ihren Schoß drückte. Trotz der Dunkelheit schien sie den
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