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Schafkopf

Schafkopf

Titel: Schafkopf
Autoren: Tommie Goerz
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An other day
Staring out of my window
Buckshot LeFonque
1. Kapitel
    Wabra
    Leupold     Popp
    Ludwig Müller   Wenauer      Blankenburg
    Starek     Strehl     Brungs     Heinz Müller     Volkert
    Spielbeginn:
    15 Uhr
    Dr. Hans Natzel saß auf dem Klo. Er hatte sich einen der alten, dicken Fußballkalender genommen, die er dort schon seit Jahren liegen hatte, und wahllos irgendwo aufgeschlagen. Er tat das immer wieder einmal, denn diese alten Kalender, jeder fast 200 Seiten dick, waren voll mit schönen, mal witzigen, mal geistreichen und interessanten Begebenheiten, Meldungen und Geschichten aus der Welt des Fußballs. Ausgegraben aus den Tiefen des Raums. Zum Lachen, Nachdenken oder Träumen. Oft brachten sie auch ein Zitat. Ungewollt Komisches von Spielern oder Trainern, aber auch aus dem Bereich, den man »Literatur« nannte. So wie diese Mannschaftsaufstellung. Das Blatt, das er sich heute zum wer-weiß-wievielten Mal ansah, war vom 23. und 24. Mai 2006. Es zitierte ein Gedicht von Peter Handke aus Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt von 1969 und hieß »Die Aufstellung des 1. FC Nürnberg vom 27. 1. 1968« – dem Jahr, in dem der »Club« zum letzten Mal Deutscher Meister geworden war. Wenigstens etwas Positives, dieses »zum letzten Mal«.
    Dr. Hans Natzel mochte dieses Gedicht, denn es war von einem seiner Lieblingsschriftsteller. Er schätzte Peter Handke, zumindest den frühen. Sprache der Stille und des Seins, Sprache der Schwermut, der Ruhe, des Innehaltens, des Leids. Und er mochte dieses Gedicht, weil es alles verkörperte, was für ihn Fußball war. Unergründliche, tief aus dem Irgendwo heraus wirkende Momente der Faszination, im Ungreifbaren der vorsprachlichen Vergangenheit verankert. Aufleuchten des Augenblicks. Bilder. Panini. Klanggebilde wie ›Borussia Neunkirchen‹. ›Meidericher SV‹. Die Spieler im Flutlicht fotografiert, bei Nacht. Wie die von Inter, Real, Benfica, im gleichen Band. Ähnlich hatten ihn vorher nur die Bilder des Struwwelpeters fasziniert, oder die Stiche aus Schedels Weltchronik, ein Buch seiner Oma, das er sich immer wieder heimlich genommen hatte. Stundenlang, erinnerte er sich, hatte er als Kind über diesen Bildern gesessen und versucht, die Welt dahinter zu ergründen. Sie blieb ihm für immer geheimnisvoll, verlor nie ihren Zauber, ihren Glanz. Borussia Neunkirchen … – wo spielten die heute? Gab es die überhaupt noch? Oder Tasmania 1900 Berlin. Das war die Unergründlichkeit schlechthin gewesen, allein schon der Name. Geheimnisse der Südsee bei Nacht auf dem Platz. Unfassbare Welten und Weiten. Das Album mit den Bildern hatte er längst verloren bei einem seiner vielen Umzüge. Der Zauber aber war geblieben. Deswegen liebte er auch die 11Freunde. Ein Magazin, das genau dieses Gefühl belebte. Das Geschichten ausgrub und leben, ja schmecken, riechen ließ. Umkleide und Spind, Freundschaft und Faszination.
    Eigentlich war Dr. Natzel schon fertig. Aber wenn man nur lange genug saß, kam immer noch etwas nach. Wie bei der Sendung mit der Maus: Nur nicht drücken, wegen der Adern im Kopf und am Hintern. Ganz im Gegenteil: Immer schön locker lassen. Dann kommt’s schon. Sein erstes Fußballspiel … er wusste noch gar nicht, was Fußball war. Sie waren spazieren gegangen und kamen, etwas erhöht auf einem Damm, an einem Fußballfeld vorbei. Es lief ein Spiel – und er musste dort hin!, es war für ihn nicht anders denkbar. Aber er hatte absolut keine Ahnung. Irgendein unterklassiges Spiel, Kleinstadt gegen Vordorf. Widerwillig hatte ihm sein Vater die 20 Pfennig gegeben, nachdem er wohl lange und intensiv genug gequengelt hatte. Der Vater ging weiter, heim. Er aber trat ein, stand auf den Stufen zwischen lauten Männern. Oh große Welt der Erfüllung! Minuten später war das Spiel jedoch vorbei, die Spieler gingen vom Platz. Das Feld war leer – die Männer um ihn herum blieben. Warum? Der Rasen war doch leer? Redeten, diskutierten, tranken Bier. Der kleine Hans begriff es nicht. Was sollte er noch dort? Das Spiel war doch zu Ende, die Gespräche der Männer verstand er nicht, und sie waren auch nicht für ihn. Waren nur für Männer. So schlich er sich, unsicher, zwischen den Männern, ihren Beinen, hindurch hinaus. Und dann von Weitem holte es ihn hinterrücks ein, eine Ohrfeige aus Dummheit und Scham: Erneut das Aufbrausen der Männer – das Spiel ging weiter, es war wohl Halbzeit gewesen. Er hatte doch keine Ahnung, wie das alles
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