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Schafkopf

Schafkopf

Titel: Schafkopf
Autoren: Tommie Goerz
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ging. Er war nur unsicher. Tränen hatte es ihm in die Augen getrieben, zurück aber traute er sich nicht. Alle würden sie über ihn lachen, die vielen großen Männer, die große Welt. So stolperte er heim, aber verschwieg die Schmach. Den richtigen Zugang zum Fußball hatte er sich damit versaut. Er, der Fußball, hatte sich ihm geöffnet, ihn empfangen mit offenen Armen, ihn bezaubert, ihn eingeladen und umgarnt – Natzel aber hatte die Torte fallen lassen, sie war ihm entglitten, er war auch noch hineingestiegen, und sie hing ihm jetzt am Schuh. Zeitlebens. Er konnte sie nicht genießen, sie war aber immer bei ihm, er konnte sie sehen, riechen, aber nie einfach nur genießen. So kam es ihm zumindest vor. Eigentlich ein blödes Bild, Torte am Schuh, auf dem Klo. Hundescheiße hätte vielleicht besser gepasst. Doch Hundescheiße war es nicht. Es war Torte, ewig verlockend und süß …
    Wie schön man doch denken konnte auf dem Klo, und wie weit schweifen. Wie die Gedanken treiben konnten in dem Gestank. Wo waren sie hergekommen? Ja, das Gedicht! Er hielt es ja noch in seinen Händen. Er liebte es auf seine Weise – aber es missfiel ihm auch, denn er hatte nicht viel für die Nürnberger übrig, den Club. Ganz im Gegenteil. Wabra, Wenauer – alles so große Namen damals, doch leider vom Club und deshalb auch eigentlich so klein! Einmal hatte einer bei ihnen im Dorfwirtshaus gesessen, später. Der war vollkommen betrunken gewesen und hatte nicht zahlen wollen. »Ich bin der Reisch!«, hatte er immer wieder gelallt und gebrüllt: »Ja, wisst ihr denn nicht, wer ich bin? Ich bin der Reisch! Der Reisch!«, und gemeint, er bekäme alles umsonst. Das war der Club, den er so hasste. Der Größenwahn, die Überheblichkeit, Maßlosigkeit, Selbstüberschätzung. So nahm er auch mit Genugtuung zur Kenntnis, dass das Gedicht fehlerhaft war. Denn damit war der Club zwar in der Literatur verewigt, aber eben falsch. Zumindest schrieb das der Kalender, den Natzel in der Hand hielt: »… prompt fand das Gedicht Einzug in die Literaturgeschichte – und mit ihm auch ein Fehler, wie der Literaturwissenschaftler Volker Bohn herausgefunden zu haben meint. Es habe nämlich, so Bohn, nicht Leupold auf dem Platz gestanden, sondern sein Kollege Helmut Hilpert. Und? Wühlen wir einmal in den Archiven … und siehe da: Hilpert ist tatsächlich in der Saison 67/68 nur in Aufstellungen von 1967 zu finden, 1968 taucht er in keiner Club-Mannschaft mehr auf – nicht in den Bundesligaspielen. Das Spiel vom 27.1. 68 aber war das DFB-Pokalspiel, 1. Runde, Leverkusen – Club (0:2) –, und in der Aufstellung von Handke fehlt? Hilpert. Allerdings war’s nochmal anders, als Bohn mutmaßt: Leupold spielte durchaus – aber erst ab der 76. Minute. Für Blankenburg …
    Tja, Herr Handke. Super Gedicht, aber falsch.
    Hier also noch einmal zum Mitschreiben und für die Literaturgeschichte die Aufstellung:
    Wabra
    Hilpert     Popp
    Ludwig Müller   Wenauer    Blankenburg    (76. Leupold)
    Starek     Strehl     Brungs     Heinz Müller     Volkert
    Spielbeginn:
    15 Uhr
    (das wäre noch zu überprüfen …)«
    Im Oktober 1973 hatte der Schriftsteller Handke, diesen Artikel hatte sich Dr. Hans Natzel aufgehoben und letzthin erst wieder gefunden, zu diesem Gedicht in einem Interview mit der ZEIT einmal gesagt – man hatte ihn zu seiner damals kurz bevorstehenden Auszeichnung mit dem Büchner-Preis befragt: »Sie glauben also, auch als Büchner-Preisträger noch frei genug zu sein, um Gedichte, wie sie in dem Band Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt stehen – ich denke da etwa an ›Die Mannschaftsaufstellung des 1. FC Nürnberg‹ – zu schreiben?« Und der Schriftsteller hatte geantwortet: »Ich würde gern noch einmal dahin kommen, solche spontanen Sachen zu schreiben, denn ich halte Die Innenwelt der Außenwelt nach wie vor für eins meiner schönsten Bücher. Aber sicher werde ich nicht mehr so schreiben können. Nur hat das nichts mit dem Büchner-Preis zu tun, sondern damit, daß ich das Lebensgefühl, aus dem heraus diese Gedichte entstanden sind, nicht mehr habe.« Ja, das Lebensgefühl … Das hatte Dr. Hans Natzel auch nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Hatte er es je gehabt? Im Fußball vielleicht, ja, und da leuchtete es bis heute noch das eine oder andere Mal auf. Aber im wirklichen Leben? Hmm …
    Wie lange saß er jetzt schon? Zehn Minuten? Langsam spürte er, wie ihm die Beine einschliefen. Dieses leichte
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