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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter
Autoren: Kerstin Michelsen
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hatte er nur gelacht und kaum Verständliches gesprochen, dann wieder hatte er halbwegs seinem Alter entsprechend agiert. Doch niemand war dem weiter nachgegangen oder hatte sich darum gekümmert, dass das Kind vollkommen verwahrlost aufgewachsen war. Es schien beinahe, als hätten alle zuständigen Behörden und Mitarbeiter sich verabredet, wegzuschauen.
    Auch im dörflichen Umfeld scherte sich niemand um den Thönges und seine Brut, wie man sie bei den Befragungen unverhohlen nannte. Die da im Wald waren ihnen nicht recht geheuer. Waren es nie gewesen. Die Düssener ließen ihre Kinder nicht mit dem Waldpack spielen. So einfach war das gewesen. Die Rehkeule zu Weihnachten oder einen fetten Wildschweinbraten hatten sie dem Thönges gern zu einem guten Preis abgekauft und nicht gefragt, woher es stammte. Darüber hinaus ging man Thönges aus dem Weg. So hatte auch in Düssen oder Eichwald niemand mitbekommen, dass der Alte längst nicht mehr lebte.
    Tomas hatte weiterhin die Rente des Vaters bezogen, dazu kamen die eigenen, wenn auch bescheidenen Bezüge aus einer Behindertenrente. Manchmal verdiente er sich aushilfsweise als Forstarbeiter etwas hinzu. Einer regulären Arbeit war er niemals nachgegangen. Der Vorarbeiter, der ihn manchmal holte, in der Urlaubszeit oder wenn einer seiner Männer länger krank war, beschrieb den Entführer als Sonderling. Komisch sei der manchmal gewesen, aber auch wieder nicht so sehr, dass es gestört hätte. Kräftig sei er gewesen und wortkarg, aber behindert hätte der nicht gewirkt. Mehr wäre nicht über ihn zu sagen
    Mit diesem Kind war also behördlicherseits alles schiefgelaufen, was nur schiefgehen konnte. Und vermutlich war die Tatsache, dass Thönges sich zu einem Mörder entwickelt hatte, auf den lebenslangen seelischen und körperlichen Missbrauch durch den Vater zurückzuführen.
    « Man glaubt es nicht, dass nicht ein einziges Mal jemand vom Jugendamt da gewesen ist, in all den Jahren», schimpfte Oliver und ich gab ihm Recht.
    Tomas Thönges war natürlich zuerst ein Opfer gewesen, ehe er selbst zum Täter wurde. Was die Sache natürlich nicht besser machte. Ich hatte kein Mitleid mit ihm. Mit dem misshandelten Kind, das er einmal gewesen war und um dessentwillen ich mich in große Gefahr begeben hatte: ja, schon. Aber der Mann, der Marita und mich gefangen und angekettet hatte, Thönges, der Mörder – nein, der verdiente mein Mitgefühl nicht.
    Ich hatte ihn retten wollen oder das Kind, das er einmal gewesen war . Als ich dann von dem Hof fliehen wollte, hatte ich gedacht, dass der Vater hinter mir her wäre. Aber es war das Kind gewesen, das inzwischen erwachsen geworden war und Frauen einfing und sie umhätschelte und wohl irgendwie auch liebte.
    Bis die Stimme seines Vaters ihm wieder befahl, das zu töten, das er liebte.
    Für Tomas Thönges war ich dreißig Jahre zu spät gekommen.
     
    Es war alles anders gekommen als gedacht, wie das manchmal so war im Leben. Dieser Gedanke gab den Ausschlag. Ich stand auf.
    Es gab keine Sicherheit, für gar nichts. Wozu also der Test?
    Ich zog die Hose hoch, wusch mir die Hände und ging hinunter. Ich fand Oliver auf der Terrasse, ging hinüber zum Tisch, an dem er saß und hielt ihm das Teststäbchen hin. Er starrte auf das kleine Sichtfensterchen.
    « Nichts?»
    Ich konnte die Enttäuschung in seiner Stimme hören. Vielleicht war es sogar mehr als das. Beinahe Schmerz oder gar ein Verlust. Wie konnte man etwas verlieren, das man noch nicht gehabt hatte? Man konnte. Und dafür liebte ich ihn umso mehr. Es war an der Zeit, ihn zu erlösen. Ich grinste.
    « Du kannst es ruhig anfassen. Da ist kein Pipi dran.“
    « Warum denn nicht?», fragte er und nahm das Stäbchen nun doch entgegen. «Musst du noch mehr trinken?»
    « Nein. Das ist es nicht.“ Ich zögerte. «Wir … wir tun das nicht.»
    « Was tun wir nicht?»
    « Das da, den Test.»
    « Nein?»
    « Nein.»
    Er nickte nachdenklich und hielt mir dann lächelnd das bereitgestellte Glas hin. Die beiden Eiswürfel waren nur noch zwei kleine, durchsichtige Inseln in einem bernsteinfarbenen See. Ich setzte mich neben Oliver auf die Bank.
    Ich war so unendlich froh und dankbar, wieder zuhause zu sein. Jeden Augenblick meiner Freiheit würde ich ab jetzt genießen, das hatte ich mir fest vorgenommen. Nicht mehr zurückblicken, nur noch nach vorn. Dazu gehörte die Zukunft mit Oliver. Die Gabe auch, ja, aber die war nicht schuld gewesen an dem, was geschehen war. Ich war
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