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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter
Autoren: Kerstin Michelsen
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zurückgewichen und starrte auf das Messer. Es steckte einfach in dem Arm und fiel nicht heraus. Eben noch war alles blitzschnell gegangen und nun kam es mir vor, als bewegten wir uns nur noch in Zeitlupe. Ich nehme an, wir standen unter Schock. Wir alle. Thönges, der blutend und brüllend vor uns stand, das Messer, das augenscheinlich zentimetertief in seinem Fleisch steckte und bereits eine erstaunliche Menge Blut zutage geführt hatte. Marita, die ohnehin fieberte und dennoch mit überraschender Kraft zugestoßen hatte. Und ich mit dem Schlüssel in der Hand. Stocksteif stand ich.
    « Jetzt mach, Nora, jetzt mach schon!»
    Ich war immer noch wie gelähmt. Thönges drehte sich um und lief brüllend aus dem Raum. Die Tür stand offen. Er zog eine Blutspur hinter sich her. Ich spürte, wie Marita mir den Schlüssel aus der Hand nahm. Er fiel klirrend zu Boden.
    « Oh Gott, Nora, jetzt mach doch endlich. Scheiße, ich schaffe das nicht. Meine Finger sind so steif. Nora, verdammt, du musst das machen!“»
    Da e ndlich konnte ich mich rühren. Setzte mich in Bewegung. Hob den Schlüssel auf, der jetzt blutig war. Der Boden vor unseren Füßen war rot gesprenkelt. Ich kam mir vor wie ein Roboter. Ferngesteuert. Das war nicht ich. Das alles hier passierte nicht mir.
    Mit zitternden Fingern bekam ich den kleinen Schlüssel zu fassen und steckte ihn in das Vorhängeschloss meiner Kette. Als ich es geöffnet hatte, fiel das lose Ende klirrend zu Boden. Ich trat beinahe darauf, als ich auf Marita zuging. Sie warf den Vorhang, den sie sich umgelegt hatte, ab. Wir mussten wohl ein groteskes Bild abgegeben haben: Marita mit vor Fieber gerötetem Gesicht, mit bloßem Oberkörper und in meinen Jeans, die ihr zu eng waren und die sich nicht ganz schließen ließen, ich dagegen trug nur noch mein T-Shirt und die Schuhe.
    Wenn ich mir die Jacke wieder anzog, würde man nicht auf Anhieb sehen, dass ich unten herum nichts trug. Aber Schamgefühl spielte ohnehin keine Rolle mehr. Wenn wir jetzt nicht flohen, dann waren wir verloren. Thönges Geheul hatte sich entfernt, aber er befand sich noch im Haus. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er seine Verletzung verbunden hätte und sich uns wieder zuwenden würde. Vielleicht hatten wir ein paar Minuten, vielleicht weniger. Jetzt waren wir nicht einmal mehr bewaffnet. Thönges würde sich furchtbar an uns rächen, das war sicher.
    Mit einer Hand ergriff ich das lose herabhängende Ende der Kette, die an meinem Halsband hing, mit der anderen nahm ich Maritas Hand. Ich zog.
    « Los jetzt.“
    Bis zur Tür bewegten wir uns leise und vorsichtig. Ich lugte in die Eingangsdiele. Niemand war zu sehen. Ich lief zur Haustür, zog Marita mit, die mehr hinter mir her stolperte, als dass sie ging. Das letzte Hindernis noch, dann waren wir frei. Wir mussten nur noch laufen, laufen, laufen. Ich packte die Türklinke. Sie ließ sich herunter drücken, doch nichts geschah. Die Tür war verschlossen.
    Über uns trampelte Thönges hin und her.
    « Aua … aua,» rief er und hörte sich beinahe an wie ein Kind, das sich das Knie aufgeschlagen hatte. Voller Unglauben und Wut und Trotz.
    Immerhin war er oben. Noch waren wir nicht ganz verloren. Doch wir mussten schnell handeln. Ich drehte mich um und stürmte mit Marita im Schlepptau in die entgegengesetzte Richtung.
    Die Küche. Gerümpel, so weit man blickte. Aber da war das, was ich erhofft hatte. Eine Hintertür. Ich drückte die Klinke herunter und atmete auf.
    « Marita, los jetzt, lauf so schnell du kannst. Halt deine Kette fest.»
    Und so stolperten wir ins Freie. Zwei Stufen hinunter. Vorbei an den Wäschepfosten, wo Thönges uns angekettet und gewaschen hatte. Vor wie vielen Tagen war das gewesen? Es kam mir vor wie eine Ewigkeit. Der Kaninchenstall. Ich war so dumm gewesen. Das Unkraut wurde immer dichter und höher. Da, endlich die ersten Bäume. Der Wald.
    Thönges Geheul, das in Hausnähe noch deutlich zu hören gewesen war, ebbte ab und verklang. Ich hörte nur noch das Keuchen meines eigenen Atems und Maritas Husten eine halben Meter hinter mir. Unsere Schritte, die Äste, die unter unseren Füßen knackten. Wenigstens hatte ich Schuhe an.
    Ich konnte Marita nicht loslassen , weil ich fürchtete, dass sie einfach stehenbleiben würde. Mir kam es vor, als liefen wir im Schneckentempo. Es war so schwer, sie zu ziehen. Mir kam es vor, als hinge eine halbe Tonne an meinem Arm. Der Wald zog in Zeitlupe an uns vorüber. So langsam, so entsetzlich
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