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Nora Morgenroth: Der Hüter

Nora Morgenroth: Der Hüter

Titel: Nora Morgenroth: Der Hüter
Autoren: Kerstin Michelsen
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sie im Wald, etwa fünfhundert Meter vom Haus entfernt. Das Gelände gehörte noch zum Grundbesitz der Thönges.
    Die Kriminalpolizei rechnete jedoch damit, dass sie weitere Leichen finden würden. Das Waldgebiet um den Hof herum war weitläufig, aber so groß nun auch wieder nicht, dass man sie nicht zwangsläufig irgendwann finden würde. Die Auswertung des sichergestellten DNA-Materials dauerte immer noch an. Zahlreiche Spuren, die noch nicht ausgewertet waren, ließen jedoch auf weitere Opfer schließen. Frauen vermutlich, die in den vergangenen Monaten im Großraum Vallau verschwunden waren.
    Meinen Wagen hatten sie immerhin in einem der zahllosen Tümpel geortet, die das Naturschutzgebiet durchzogen. Es war natürlich ein Totalschaden. Aber der Wagen kümmerte mich weniger als meine Tasche, die verschwunden blieb. Die Kreditkarten waren längst gesperrt und ein neuer Ausweis war beantragt. Trotzdem hinterließ der Verlust ein mulmiges Gefühl.
    Das Irrsinnige an der ganzen Geschichte sickerte nur langsam in mein Bewusstsein ein. Ja, es war doch alles ein einziger, idiotischer Irrtum gewesen. Ich hatte Thönges für den Vater gehalten, der auf die eine oder andere Weise seinen Sohn misshandelt hatte. Stattdessen war er der Sohn gewesen.
    Die Familiengeschichte stellte sich immer noch dar wie ein Puzzle, in dem zu viele Teile fehlten. Tomas‘ Mutter war vor etwa dreißig Jahren verschwunden. Da mochte die Geburt des Jungen ein oder zwei Jahre zurückliegen. Eine Hausgeburt war es gewesen, ohne Hebamme oder Arzt. Mehr war darüber nicht bekannt. Danach verlor sich die Spur der Mutter. Es war beinahe, als hätte es sie niemals gegeben. Familie Thönges hatte zurückgezogen gelebt und keinen Kontakt zu den Dörflern in Düssen gepflegt. Niemand hatte Frau Thönges vermisst. Das letzte, was von ihr bekannt wurde, war ein Zahnarztbesuch wegen eines vereiterten Weisheitszahnes im Jahre 1984. Inzwischen hielt die Polizei es nicht mehr für ausgeschlossen, dass auch ihre Leiche auf dem Hofgelände oder in der Umgebung verscharrt lag.
    Vielleicht wäre auch die Geburt des Jungen bei den Ämtern unbemerkt geblieben, wenn nicht eines Tages eine aufmerksame Kindergärtnerin aus Eichwald auf einer Wanderung am Hof vorbeigekommen und den Jungen gesehen hätte. Genau genommen waren es zwei Kinder gewesen, die sie zu sehen gemeint hatte. Zwei blonde Knaben, das stand in den Akten. Das war ihr merkwürdig vorgekommen, weil diese doch im schulpflichtigen Alter waren und sie sie noch nie gesehen hatte und sie kannte doch alle Kinder aus den umliegenden Dörfern. Da hatte sie bei der Gemeindeverwaltung angerufen, dann war jemand vom Amt zum Hof gefahren und dem alten Thönges war schließlich nichts anderes mehr übrig geblieben, als den Sohn zu melden. Von Schuldbewusstsein war keine Spur gewesen. Im Gegenteil, laut hatte er in der Amtsstube herumgepoltert und dabei einen Stuhl umgeworfen, als man ihn nach den Buben befragt hatte.
    Ja, sogar dieses Vorkommnis, also Thönges‘ Pöbeleien, fand sich in den Akten: Einen Jungen hätte er, einen einzigen, er müsse das ja wohl wissen. Die verängstigte Sachbearbeiterin hatte sich beeilt, die notwendigen Formulare auszufertigen und beließ es dabei. Sie hatte offenbar keinen Bedarf verspürt, diesem grobschlächtigen, wütenden Mann zu widersprechen. Also reichte sie den Fall weiter. Nur die schulärztlichen Untersuchung hatte sie noch in die Wege geleitet, daran führte dann kein Weg mehr vorbei.
    Drei Tage später hatte Thönges dem Amtsarzt einen etwa achtjährigen Jungen namens Tomas vorgeführt. Eine geistige Behinderung wurde diagnostiziert, worauf weitere Formulare auszufüllen gewesen waren. Wenig später waren die üblichen staatlichen Unterstützungen genehmigt, wie das Kindergeld, später eine Invalidenrente. Und dann verschwanden Vater und Sohn Thönges auf Nimmerwiedersehen in den Untiefen der Aktenschränke eines gleichgültigen Sachbearbeiters der Sozialbehörde.
    Das Kind war nur unregelmäßig in die entsprechenden Einrichtungen gebracht worden. Das ließ sich sogar nach beinahe drei Jahrzehnten noch feststellen. Immer wieder hatte es geheißen, das Kind sei krank. Die zuständigen Erzieher hatten ihren Aktenvermerken allem Anschein nach mehr Aufmerksamkeit angedeihen lassen als dem betroffenen Kind. Die Ermittlungen förderten uralte Unterlagen zutage, aus denen hervorging, dass der Junge von Tag zu Tag unterschiedliches Verhalten und Können gezeigt hatte. Manchmal
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