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Noch ein Tag und eine Nacht

Noch ein Tag und eine Nacht

Titel: Noch ein Tag und eine Nacht
Autoren: Fabio Volo
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sich für ein Kind zu entscheiden, könnte man meinen. Doch nicht in meinem Alter. Als ich zwanzig war, wollte ich ein Kind von einer Frau, weil ich sie liebte. Jetzt ist alles anders. Mit zwanzig wäre mir eine Geschichte, wie ich sie jetzt erlebte, absurd vorgekommen. Das hätte nicht zu meiner Vorstellung von Liebe gepasst.
    Jetzt möchte ich ein Kind, und Michela ist die Frau, mit der ich diese wichtige Erfahrung teilen möchte. Punkt. Von Anfang an habe ich mich bei ihr wie ausgewechselt gefühlt, wie ein vollkommen neuer Mensch, so als hätten wir nur aufeinander gewartet und wären uns zum richtigen Zeitpunkt und unter den richtigen Bedingungen begegnet. Als wäre es vom Schicksal vorherbestimmt, dass für mich nun eine wichtige Veränderung ansteht und ich in einen neuen Lebensabschnitt eintrete.
    In den Monaten des Wartens war mir Schreiben eine große Hilfe. Ich habe meine Gefühle niedergeschrieben, habe mein Innenleben beobachtet und dabei eine lebendige Welt im Umbruch entdeckt. Ich schrieb Michela Briefe, die ich jedoch nie abschickte. Diese Briefe habe ich jetzt bei mir. Sie sind schon frankiert, denn falls sie nicht kommt, werde ich sie ihr schicken.
    Dazu ein weiterer Brief und ein paar Fotos: Blumen, ein gedeckter Tisch für zwei Personen, »unsere« Straßenbahn. Dann ein Foto, das ich an ihrem Geburtstag gemacht habe, darauf sind ein Kalender, ein Geschenk und zwei Weingläser zu sehen. Ich habe auch Augenblicke gemeinsam mit ihr verbracht, an denen wir nicht zusammen sein konnten.
    Es ist zehn Uhr fünfundvierzig, mir schlägt das Herz bis zum Hals, so dass ich kaum Luft kriege. Ich schaue mich um und fahre mit den Händen nervös über die Schachtel mit den Briefen. Außer der Schachtel habe ich ein Paar rote Schuhe dabei, die ich extra für sie gekauft habe. Schuhe deshalb, weil ich finde, dass sie sehr gut zu meinem Wunsch passen, mit ihr in eine gemeinsame Zukunft zu gehen. Aber die Befürchtung, sie vielleicht nie an ihren Füßen zu sehen, wächst zusehends.
    Plötzlich rollt ein Ball auf mich zu. Als ich aufblicke, sehe ich ein Mädchen, das auf mich zuläuft, um den Ball zu holen. Beim Aufheben sieht sie mich kurz an und läuft dann schnell wieder weg. Man hört das Gezwitscher der Vögel und in der Ferne auch einen Bohrer. Am Morgen höre ich gern die Geräusche der Menschen bei der Arbeit, natürlich nur, wenn ich nicht zu Hause bin, versteht sich.
    Ich sehe auf die Uhr, es ist fünf nach elf. Langsam frage ich mich, wie lange ich warten soll. »Ich muss mir eine Frist setzen«, sage ich mir. »Wenn sie bis Viertel nach elf nicht kommt, dann gehe ich. Na, sagen wir lieber halb zwölf.«
    Ich versuche mich abzulenken und beobachte die Leute um mich herum. So viele Leute, jeder mit seinen eigenen Träumen, seinen eigenen Freuden, seinen eigenen Leiden. Manchmal denke ich an all die verschiedenen Orte auf der Welt, an denen ich schon gewesen bin, und dann stelle ich mir die Menschen auf den Straßen vor. Als ich klein war und mir vorzustellen versuchte, wie viele Menschen es auf der Welt gibt, war ich einfach überzeugt, dass Gott von mir nichts wissen könne.
    Elf Uhr zwanzig. Michela ist immer noch nicht da. Jetzt denke ich zum ersten Mal ernsthaft, dass sie vielleicht nicht kommt. Ich verlängere die Wartefrist bis zwölf.
    Es wäre einfach zu schön gewesen. Plötzlich bin ich deprimiert, es ist vorbei, meine euphorische Stimmung ist wie weggeblasen, und ich bin nicht mehr froh, dass ich ihr begegnet bin und sie einen besseren Menschen aus mir gemacht hat. Dabei müsste ich froh sein. Denn wie ich hier so sitze, auf diesem Stuhl, mit den roten Schuhen und einem Stapel nicht abgeschickter Briefe in der Hand, mache ich mich doch lächerlich. Ich werde sie auf keinen Fall abschicken, wie ich es ursprünglich vorhatte. Jetzt ist es klar, Michela kommt nicht. Ich muss mich damit abfinden, dass mein Film kein Happyend hat. »Wenn du nicht kommst, was soll ich dann mit dir anfangen?«
    Ich stehe auf, ich kann nicht länger sitzen. Ich gehe zur Statue. An ihrem Fuß liegen Kränze, wahrscheinlich von der Gedenkfeier des elften September. Ich lese die Inschrift auf der Plakette: La Liberté éclairant le monde. Ich setze mich wieder. Ich werfe den Kopf in den Nacken und betrachte den Himmel über Paris, eine Träne läuft mir über die Wange bis ins Ohr. Ich habe Bauchweh. Ich denke an alles, was ich für sie getan habe, an alles, was mich lebendig gemacht hat. Seit ich ihr begegnet bin, habe
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