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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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überall war es tatsächlich drei Grad kälter als in der Gegend um das Chemiewerk herum, in dem neun Mozambiquaner arbeiteten.

6
    In den nächsten Wochen traf ich mich regelmäßig mit Nilowsky. Nicht vor oder gar in der Kneipe, nein, alle zwei, drei Tage passte er mich auf meinem Weg von der Schule nach Hause ab und ließ sich von mir begleiten. Meist liefen wir einfach in der Gegend umher, wobei es mir immer so vorkam, als hätte er einen genauen Plan für die Wege, die wir zurücklegten. Oft kamen wir auf diesen Wegen auch am Bahndamm vorbei, weit genug vom Bahndamm-Eck entfernt, sodass sein Vater uns nicht sehen konnte. Wenn wir am Bahndamm waren, erläuterte er, wann genau die Züge vorbeifuhren, auf die Minute genau konnte er das sagen. Einmal, als der Vierachtzehner kam, legte er wieder einen seiner Groschen auf die Schiene, und der Vierachtzehner fuhr ihn platt, so platt wie es nur möglich war, und nahm Spuren von ihm an seinen Rädern mit, nach Westdeutschland, nach Belgien, Frankreich, Spanien, Portugal. Revolutionäre Spuren, sagte ich mir, für den kapitalistischen Teil Europas; bis das Meer kam, der Atlantische Ozean, und es nicht mehr weiterging. Auch wenn es mir nicht ganz logisch vorkam, dass die Züge, die Nilowskys Groschen verwandelten und veredelten, in Richtung Westen fuhren, begann ich, ihm zu glauben. Ich fragte mich, ob es ein Merkmal von Freundschaft sei, wenn man jemandem glaubt, obwohl es einem nicht ganz logisch erscheint.
    Wir gingen stumm nebeneinander her. Es hatte beinahe etwas Feierliches. Ein paar Straßen weiter begann er von der Befreiung Afrikas zu reden und von der Ausrottung der letzten Kolonialherren. Die Namen der Länder, die er nannte – Angola, Äthiopien, Sambia, Mozambique, Uganda, Tansania –, klangen für mich wie Verheißungen, deren Erfüllung unmittelbar bevorstand. Vielleicht, sagte er, werde er in einem dieser Länder eines Tages ein Chemiewerk errichten, eines, das Lebensmittel produziere, in Form von Tabletten, damit in Afrika oder irgendwo sonst auf der Welt nie mehr Hunger herrsche. Er lachte und sagte: »Jedenfalls nicht so ein Chemiewerk wie bei uns hier, das nicht, auf keinen Fall. Nicht so eines, das Kopfschmerztabletten produziert und dabei so sehr stinkt, dass die Menschen Kopfschmerzen kriegen. Ist doch absurd, oder etwa nicht?«
    »Ja«, antwortete ich, »das ist absurd«, und Nilowsky fuhr fort: »Oder Kneipen, die wird es in Afrika auch nicht geben, keine einzige Kneipe. Höchstens ein paar Restaurants, mit richtig gutem Essen, also, in diesem Fall mal keine Tabletten, sondern Hummer oder Antilopenfleisch, all so was, und alles mit Ingwer und Knoblauch, und zum Dessert – so nennt sich das, was man nach dem Essen isst – Papayas, Mangos und gebratene Bananen. Und nach dem Dessert, zur Verdauung, nur dazu, auch mal ein Gläschen Likör oder Weinbrand, aber nur ein Gläschen. Keinen Klaren, überhaupt keinen Fusel, auch kein Bier, denn davon kriegst du nur Kopfschmerzen, und um Kopfschmerztabletten zu produzieren, dafür werden die afrikanischen Chemiewerke zu schade sein. Klar, oder?«
    »Klar, leuchtet mir ein.« Es leuchtete mir tatsächlichein. Wozu, dachte ich, soll man Kopfschmerztabletten herstellen, wenn man stattdessen alle möglichen Ursachen von Kopfschmerzen beseitigen kann? Und plötzlich verstand ich auch, warum die Mozambiquaner im Chemiewerk hinterm Bahndamm faul und undiszipliniert waren. Sie hoben ihre Kräfte auf für die Produktion von Lebensmitteln in Tablettenform, so einfach war das. Ich erläuterte Nilowsky meinen Gedanken, und er sagte: »Siehst du, jetzt begreifst du auch, was Roberto mit ›Pause‹ und ›Revolution‹ meinte: Er macht jetzt Pause, um später, wenn er zurück in seiner Heimat ist, die Revolution weiterführen zu können, deshalb macht er Pause. Klare Sache, oder? Kapiert bloß keiner hier bei uns im Osten.«
    Nilowskys Logik begann mich zu faszinieren. Sie war etwas Kostbares, das mir immer vertrauter wurde. »Die meisten von den Säufern im Bahndamm-Eck «, fuhr er fort, »sind Arbeiter im Chemiewerk, die meisten von denen, und nach Feierabend bekämpfen sie ihre Kopfschmerzen. Mit Bier und Schnaps und Skatspielen bekämpfen sie die. Das geht, solange geht das gut, bis sie frühmorgens aufwachen und die Kopfschmerzen stärker sind als am Feierabend. So kommt es, dass sie massenweise von den blöden Tabletten nehmen, die sie selber produzieren.«
    »Dadurch«, ergänzte ich, »haben sie wenigstens
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