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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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meinem Zimmer liegen, um einen Vorwand zu haben, nach der Schule zu meiner Mutter ins Chemiewerk zu gehen und sie um ihren Schlüssel zu bitten.
    »Junge, Junge«, sagte meine Mutter, »Schlüssel hast du ja noch nie vergessen. Nicht dass du uns jetzt noch schusslig wirst.«
    »Könnte passieren«, erwiderte ich und täuschte Besorgnis vor.
    »Bloß nicht«, meinte meine Mutter und gab mir ihren Schlüssel.
    Ich verließ das Chefbüro und ging im Werk umher.
    Natürlich achtete ich darauf, so wenig wie möglich gesehen zu werden. Ich verbarg mich hinter Pfeilern und Mauervorsprüngen, und auf einmal entdeckte ich drei schwarze Männer, nebeneinander auf einer Rohrleitung sitzend, die dicht über dem betonierten Boden verlief. Die drei waren vielleicht Anfang zwanzig, hatten große, runde Gesichter und breite, flache Nasen. Sie trugen blaue Arbeitsanzüge und kauten auf etwas herum, langsam und gleichmütig.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Hallo«, antwortete der, der in der Mitte saß. »Gehen gleich wieder an Arbeit«, fügte er hinzu. »Nur kurz Pause.«
    »Von mir aus«, sagte ich, »könnt ihr ruhig weiter Pause machen.«
    Der Mittlere schmunzelte mir zu und meinte: »Ja. Ist gesund Pause.«
    Er ist bestimmt der Sprecher der drei, dachte ich und wunderte mich deshalb nicht, dass mich die beiden anderen kaum beachteten. »Woher kommt ihr?«, fragte ich ihn.
    »Mozambique«, meinte er. »Maputo, Hauptstadt. Sollen lernen. Chemiefacharbeiter. Internationale Solidarität von Proletariat. Deshalb Sozialismus und Revolution wird siegen in Afrika.«
    Dieser Text wirkte wie auswendig gelernt, und ich hatte schon Lust zu sagen: Ich bin nicht euer Lehrer, mit mir müsst ihr nicht so reden. Stattdessen fragte ich: »Und warum, wenn das so ist, sitzt ihr hier rum?« Darauf der Sprecher: »Brauchen auch Pause für Revolution. So einfach.«
    In meinen Ohren klang das schlüssig, geradezu logisch.Für meine Eltern jedoch, dachte ich, ist das natürlich unbegreiflich. Auf einmal kam mein Vater auf uns zu, wie aus dem Nichts. »Ich sehe wohl nicht richtig«, rief er den Mozambiquanern zu. »Macht euch an die Arbeit, aber fix!«
    Die drei standen unverzüglich und ohne Widerrede auf, doch so eilig sie auch davongingen, sie behielten ihren Gleichmut.
    »Und du?«, fragte mein Vater. »Was machst du hier seit über ’ner halben Stunde? Der Pförtner hat sich ganz aufgeregt bei mir gemeldet, sagte, du wolltest nur mal schnell den Wohnungsschlüssel holen und kommst einfach nicht zurück. Was soll das? Du kannst hier nicht ohne Erlaubnis … Was hast du mit den Afrikanern geredet?«
    »Über dich«, antwortete ich, »haben wir geredet. Dass du nicht kapierst, dass Revolution und Pause zusammengehören. Dass du nur immer an deine Arbeit denkst und dass dir deshalb alle andern Menschen egal sind.«
    Ich ging, ohne eine Reaktion abzuwarten. Ich wusste in diesem Moment schon, was mich am Abendbrottisch erwarten würde: ein pädagogisches Gespräch, wie meine Eltern das nannten.
    »Ich arbeite deshalb so viel, damit es uns gut geht«, begann mein Vater. »Insofern«, fügte meine Mutter hinzu, »ist ihm seine Familie überhaupt nicht egal, das ist ja wohl klar.« – »Und die Mozambiquaner«, erläuterte mein Vater, »die sind eben anders als wir. Deshalb bleiben sie auch nach der Arbeit unter sich in ihrem Wohnheim.« – »Na ja«, korrigierte nun meine Mutter, »so ganz unter sich sind sie ja nicht. Oder wie soll man das mitden Frauen sehen, von denen sie sich verbotenerweise besuchen lassen?«
    Ich wollte schon fragen, was für Frauen sie denn meine, doch mein Vater ließ mich nicht zu Wort kommen. »Und genau deshalb«, sagte er, »sollst du, weil du noch ein junger Mensch bist und abgesehen davon mit den Mozambiquanern sowieso nichts zu schaffen hast, am besten jeglichen Kontakt zu ihnen vermeiden.«
    »Ja«, bekräftigte meine Mutter, »das ist das Beste für dich.« Und dann fragte sie: »Hast du denn eigentlich schon einen Freund in deiner Klasse?«
    »Nein«, erwiderte ich.
    »Und sonst, hier im Wohngebiet vielleicht?«, erkundigte sich mein Vater.
    Ich überlegte kurz und sagte, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres: »Ja. Nilowsky, Reiner Nilowsky, der Sohn vom Wirt aus ’m Bahndamm-Eck .«
    Meine Eltern schauten mich ungläubig an.
    »Wie kommst du denn auf den?«, fragte mein Vater.
    »Na, immerhin wohnt er im selben Haus wie wir«, antwortete ich.
    »Der ist nun aber bestimmt nicht das richtige Milieu für dich«, meinte
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