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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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Kartenspieler zu, und der, der den Schlafenden gerüttelt hatte, sagte: »Setz dir zu uns!« Ich zog mir, überrascht wie ich war, einen Stuhl an den Tisch, und der dritte Kartenspieler fragte: »Kannste Skat?«
    Mit dieser Frage schien die vorherige, wer ich sei, nicht mehr von Interesse zu sein. »Nein«, antwortete ich, »leider nicht.« Und Nilowsky rief vom Tresen rüber: »Der wohnt erst seit ein paar Tagen hier.« Das klang wie die Begründung dafür, dass ich nicht Skat spielen konnte. »Komm«, sagte er, »fass mal mit an!«
    Er deutete auf den Schlafenden, und der, der ihn gerüttelt hatte, meinte: »Na, endlich. Wird ja Zeit, dass der wegkommt.«
    »Du hältst ihn am Kopf, da hältst du ihn, ich zieh die Beine«, ordnete Nilowsky an. Ich nahm den Kopf in beide Hände, Nilowsky packte die Oberschenkel, und so hievten wir den langen, dürren Alten von den Stühlen herunter, während er weiterschlief und schnarchte, ohne dass sich sein riesiger Adamsapfel dabei bewegte.
    »Der is so besoffen, der merkt von nischt wat«, sagte der, der von mir wissen wollte, ob ich Skat spielen kann, und der, der mich gefragt hatte, wer ich denn sei, meinte zu Nilowsky: »Wenn dein Alter weiter so säuft, is er bald für immer weg.«
    Wir zogen Nilowskys Vater, Beine voran, durch einen dunklen Flur. Weil ich fürchtete, der Kopf des Alten könne vom Hals abreißen, bemühte ich mich, ruckartige Bewegungen zu vermeiden. Wir zogen ihn bis in sein Schlafzimmer, in dem es nach Bier und Schweißund Zigarettenqualm stank. Dann hievten wir ihn aufs Bett, Nilowsky warf die Bettdecke über den Kopf des Vaters und sagte: »Könnte ihn umbringen, jetzt könnte ich das, wieder mal, wäre ganz einfach, ihn umzubringen, ganz einfach wäre das, einfach zudrücken, bis er keine Luft mehr kriegt. Aber würde schnell gehen, zu schnell würde das gehen, das Totsein, das wäre ja keine Qual für ihn, das wäre zu einfach, keine Qual ist nicht gut, hat er nicht verdient.«
    Nilowsky nahm die Bettdecke vom Gesicht des Alten und erklärte: »Das war’s. Muss wieder nach vorne, muss ich.«
    Ich folgte ihm in den Gastraum, in dem die Skatspieler neue Biere forderten, die Nilowsky sogleich zu zapfen begann. Zu mir sagte er nur noch: »Danke dir. Mach’s gut.«
    Das klang so entschieden, dass ich, ohne ein Wort zu erwidern, hinausging. Ich fühlte mich gekränkt, denn ich hatte den Eindruck, er hatte mich nur hineingebeten, um seinen Vater wegzuschaffen.
    Ich nahm mir vor, Nilowsky fortan nicht weiter zu beachten. Doch am nächsten Nachmittag beobachtete ich durch die offen stehende Kneipentür eine Szene, von der ich, schon als ich sie sah, wusste, dass ich sie wohl nie würde vergessen können: Ich sah, wie der Vater mit einem Feuerhaken auf seinen am Boden liegenden Sohn einschlug. Auf Rücken und Beine schlug er und auf die Arme, die Nilowsky schützend an den Kopf gepresst hatte. Im Rhythmus der Schläge brüllte der Vater: »Du hast mir nich anzufassen, is dir det klar, dass du mir nich anzufassen hast?« Nilowsky antwortete nicht. Er wimmerte vor sich hin, während der Alte abermals brüllte:»Ob dir det klar is, ein für allemal, dass du mir nich anzufassen hast?«
    Ich rannte in den Hausflur und die Treppe hoch. Ich schämte mich, Zeuge dieser Demütigung geworden zu sein, die ich, weil ich noch nie verprügelt worden war – nicht von meinen Eltern, von niemandem –, im Grunde genommen gar nicht nachvollziehen konnte. Ich fragte mich, ob ich ihm irgendwie hätte beistehen müssen. Ob die offen stehende Kneipentür gewissermaßen eine Aufforderung gewesen war, etwas für ihn zu tun. Ich hatte das Gefühl, versagt zu haben, wollte allein sein und schloss mich in mein Zimmer ein. Später rief mich meine Mutter zum Abendbrot. Als ich nicht reagierte, klopfte sie und rüttelte an der Tür. »Hast du was zu verbergen?«, fragte sie mich. »Oder warum schließt du ab?«
    »Ich schließe ab, weil ich nicht hier wohnen will!«, schrie ich durch die geschlossene Tür, aber meine Mutter ging nicht darauf ein.
    Mit Nilowsky sprach ich nie über das, was ich gesehen hatte, nicht einmal eine Andeutung machte ich. Ich fand auch nie heraus, ob er oder sein Vater mich überhaupt bemerkt hatten.

3
    In den nächsten Tagen wagte ich mich nicht vor das Fenster oder die Tür der Kneipe. Wenn ich nach Hause kam, huschte ich in den Hauseingang und rannte die Treppe hoch, um so schnell wie möglich in unsere Wohnung zu gelangen. Vom Fenster meines Zimmers aus sah
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