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Nilowsky

Nilowsky

Titel: Nilowsky
Autoren: Torsten Schulz
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meine Mutter.
    Ich stand auf und sagte: »Wenigstens meine Freunde darf ich mir doch noch aussuchen, oder?«
    Ich ging in mein Zimmer. Freute mich, dass ich meine Eltern verblüfft hatte. Plötzlich aber hatte ich auch Angst: Was wäre, wenn meine Mutter zu Nilowsky ginge und ihm mitteilte, dass sie eine Freundschaft zwischen mir und ihm nicht wünsche? Ich hatte keine Ahnung, wie Nilowsky reagieren würde. Allein der Gedanke daran bereitete mir Unbehagen. Mir kam wiederin den Sinn, wie er bei offener Kneipentür von seinem Vater verprügelt worden war. Als Freund, sagte ich mir, hätte ich ihm helfen müssen, irgendwie. Vielleicht war das eine Prüfung für mich gewesen.
    Mit diesem Gedanken lag ich nachts wach im Bett. Ich fragte mich auch, was die Mozambiquaner wohl von mir hielten. Könnte doch sein, dass sie mich als eine Art Aufpasser ansahen. Als einen Spion im Dienste meines Vaters. Auf einmal glaubte ich mich zu erinnern, dass der Sprecher der drei mich strafend angesehen hatte, bevor sie, von meinem Vater ermahnt, davongezogen waren.
    An das Vibrieren, das die vorbeifahrenden Züge erzeugten, hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Auch den Gestank vom Chemiewerk fand ich nicht mehr ganz so furchtbar. Aber dass ich mit meiner Neugier vielleicht als Spion oder sogar als Feind angesehen wurde, war nichts, woran ich mich hätte gewöhnen können.

5
    Am nächsten Tag passte mich Nilowsky auf meinem Weg von der Schule nach Hause ab.
    »Hallo, grüß dich«, sagte er betont lässig.
    »Hallo«, erwiderte ich, bemüht, seinen Ton zu treffen.
    »Roberto hat mir von dir erzählt«, fuhr Nilowsky fort, während wir nebeneinander hergingen und er immer noch ein wenig hinkte. »Ihr habt euch unterhalten. Er fand dich sehr nett.«
    Roberto hieß er also, der Sprecher der drei Mozambiquaner. Dass er mich, warum auch immer, sehr nett fand, entspannte mich. »Danke. Ich fand ihn auch sehr nett.«
    »Er war im Widerstand gegen die Kolonialherren«, berichtete Nilowsky. »Sie haben seine Mutter umgebracht. Wenn er zurück ist, wird er sie rächen.«
    So wie Nilowsky das sagte, ließ er keinen Zweifel daran, dass Roberto das tun werde. »Die Kolonialherren«, meinte er weiter, »treiben nämlich immer noch ihr Unwesen, obwohl die Revolution gesiegt hat. Jedenfalls vergeht für Roberto kein Tag, an dem er nicht an seine Rache denkt, kein Tag.«
    Nilowsky war ziemlich stolz auf den Mozambiquaner, ein Vorbild an Willenskraft. »Weißt du eigentlich«, fragte er, »warum es hier drei Grad wärmer ist als anderswo in Berlin?«
    »Nein«, antwortete ich. »Ist das denn so?«
    »Und ob das so ist. Also, zwei Grad wärmer ist es durch das Chemiewerk, ich meine die Schwefelabgase, die das Werk ausstößt, diese stinkenden Schwefelabgase. Aber woher das dritte Grad?« Er wartete keine Antwort ab, er rechnete wohl auch mit keiner. »Klar, das ist ein großes Geheimnis. Aber ich kenne es, das Geheimnis. Vor vier Monaten, da wurde es, um ein Grad wärmer wurde es da. Zu dieser Zeit, vor genau vier Monaten, sind sie hier angekommen, die Mozambiquaner, aus ihrer Hauptstadt Maputo, neun Mann. Das Holzhaus war vorher angestrichen worden, rotgelb, so hatte die Betriebsleitung das Holzhaus anstreichen lassen. Haben sich zuvor wahrscheinlich erkundigt, bei der FRELIMO, so nennen sich die Revolutionäre in Mozambique, wie die Baracke angestrichen werden soll. Aber dass es mit den Mozambiquanern wärmer wurde, genau ein Grad, das hat die Betriebsleitung nicht bemerkt, das hat niemand hier bemerkt. Nur ich, ich hab es bemerkt. Ein Grad, das haben sie nämlich mitgebracht, die Mozambiquaner, das eine einzige Grad. Niemand weiß das. Nur ich. Und du hältst dicht, ist das klar?«
    Das nächste Geheimnis, das er mir anvertraute. »Ja, ich halte dicht«, versicherte ich.
    »Gut.« Es klang tief befriedigt. »Würde auch gern im Chemiewerk lernen, das würde ich gern. Aber muss bei meinem Alten, muss ich lernen. Lehre in der Gastronomie, bei ihm. Soll die Kneipe übernehmen, wenn er mal nicht mehr ist. Wer nischt wird, wird Wirt. Kennst du nicht das Sprichwort? Aber ich werd’ schon noch was werden, kannst du Gift drauf nehmen.«
    Mit dieser Bemerkung bog er in eine Nebenstraße abund ging eilig davon. Ich sah ihm nach, seinen langen staksigen Beinen, den weit ausholenden Armen, und so sehr ich auch darauf achtete, er hinkte nicht mehr.
    Noch am Abend desselben Tages fuhr ich mit einem Thermometer nach Treptow, nach Prenzlauer Berg, nach Pankow, und
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