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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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die Nachbarn zu verteilen.«
    »Als mein Vater vor ein paar Jahren starb«, erzählte Thorpe, »haben seine Freunde in Tuscaloosa dasselbe getan. Wir hätten genug gebratenes Hähnchen und Bananenpudding gehabt, um eine ganze Footballmannschaft damit satt zu bekommen.« Er sah mir einige Sekunden lang in die Augen, dann sagte er: »Wie kommen Sie zurecht, Ellie?«
    Ich kämpfte mit den Tränen. Was sollte ich sagen? Die Geschehnisse lagen noch nicht lange genug zurück, um sie auf irgendeine schlüssige Art und Weise verarbeitet zu haben. Der Schock war noch lange nicht überwunden. Unversehens erzählte ich Thorpe etwas, das an diesem Morgen geschehen war: Beim Aufwachen hatte ich die Decke zurückgeschlagen und war eilig ins Bad gerannt, um vor Lila in die Dusche zu
kommen, weil sie jedes Mal den Großteil des heißen Wassers verbrauchte. Als ich den Hahn aufdrehte, fiel mir wieder ein, dass Lila nicht da war, dass sie weder an diesem noch an irgendeinem anderen Tag duschen würde. Ihr Tod war eine Erkenntnis, die ich, seitdem es passiert war, unzählige Male neu gewonnen hatte, doch jedes Mal war es wie eine frische Wunde. Ich wachte mitten in der Nacht auf, und für einen kurzen Moment war alles gut, bis ich mich daran erinnerte, dass sie fort war. Dann lag ich in meinem Bett und konnte mir einfach nicht vorstellen, wie unsere Familie ohne sie weiterleben sollte.
    »Für mich ist das Seltsamste an der ganzen Sache, plötzlich allein mit meinen Eltern im Haus zu wohnen«, sagte ich. Wir saßen neben dem Heizlüfter, aber ich fröstelte. »Vorher gab es ein Gleichgewicht: zwei von ihnen, zwei von uns. Jetzt fühle ich mich in meinem eigenen Zuhause wie das fünfte Rad am Wagen, mehr wie ein Gast als eine Tochter. Wenn meine Eltern und ich uns früher einmal nicht verstanden haben oder ich in Schwierigkeiten war, gab es immer Lila als Puffer zwischen uns. Jetzt sitzen wir da und versuchen verzweifelt, Konversation zu machen.« Ich wischte mir die Augen. »Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen das erzähle.«
    Thorpes Miene drückte Besorgnis aus, aber kein Mitleid. »Erzählen Sie mir, was immer Sie wollen«, sagte er. »Vielleicht hilft es.«
    Die Gespräche, die Andrew Thorpe und ich in den Wochen und Monaten nach dem Tod meiner Schwester führten, waren keine Interviews, jedenfalls nahm ich es nicht so wahr. Ich wandte mich an ihn, einfach weil er da war und weil er verständnisvoll war und weil ich nie das Gefühl hatte, dass er über mich oder meine Familie ein Urteil fällte. Mit Gleichaltrigen war es schwer, über Lilas Tod zu sprechen, sie waren in
meiner Gegenwart so ernst, als könnte Lachen meinen Kummer verharmlosen. Mit meinen Eltern zu sprechen war unmöglich, sie hatten auf eine gewisse Art dichtgemacht. Nicht, dass sie nicht mehr funktionierten: Sie standen beide morgens auf und gingen zur Arbeit, und am Abend wechselten wir uns, wie immer schon, mit dem Kochen ab. Mein Vater spielte jeden zweiten Freitag Golf, und meine Mutter kümmerte sich weiterhin um ihren Garten, jätete und pflanzte und wässerte abends nach ihren langen Arbeitstagen in der Anwaltskanzlei. Der Unterschied lag nicht in der Handlung, sondern eher in der Emotion. Meine Eltern waren immer fröhliche Menschen gewesen, doch nachdem Lila gestorben war, lachten sie kaum noch. Bei den seltenen Gelegenheiten, wenn einer von ihnen lächelte, wirkte es gezwungen. Die Albernheit, die ein typisches Merkmal unseres Familienlebens gewesen war, erstarb. Und die anhaltende Romantik ihrer Ehe, die ich für selbstverständlich gehalten hatte, verblasste völlig.
    Wenn sie über Lila sprachen, dann war das beinahe immer einem vereinzelten und vorübergehenden Moment geschuldet, während dessen sie glaubten, sie wäre noch am Leben. Eines Morgens beispielsweise, wenige Wochen nach Lilas Tod, fuhr ich den Wagen aus der Garage, und mein Vater sagte: »Vergiss nicht, den Tank für Lila aufzufüllen.« Ein anderes Mal holte ich gerade Teller aus dem Schrank, als meine Mutter meinte: »Da fehlt noch einer.« Sie griff nach einem vierten Teller, bis ihr bewusst wurde, dass ich richtig gezählt hatte.
    Es war, als hätten meine Eltern die bewusste Entscheidung getroffen, zu vergessen. Im Nachhinein fand ich es merkwürdig, dass wir nicht zusammensaßen und über meine Schwester sprachen, unsere liebsten Erinnerungen an sie wachhielten.
Aber damals schien es völlig natürlich, dem Thema auszuweichen, als könnte das Entfernen Lilas aus unseren Gesprächen
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