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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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Geburtstag und am ersten Tag im Herbst. Vor diesem Panorama über sie zu reden, mit diesem Mann, den ich inzwischen als Freund betrachtete, fühlte sich natürlich an.
    Auch nach dem Ende des Sommersemesters trafen wir uns weiterhin, entweder im Dolores Park, der in der Nähe seiner Wohnung lag, oder in der Creighton’s Bakery in Glen Park. Ein paarmal sahen wir uns im Roxie zusammen einen Film an.
    Erst im Juni aber, sechs Monate nach dem Beginn unserer Gespräche, erzählte Thorpe mir, dass er an einem Buch schrieb. Wir aßen im Pancho Villa zu Mittag. Während wir am Fenster saßen und uns unsere burritos schmecken ließen, kommentierte Thorpe die Passanten. Für jeden von ihnen hatte er eine Geschichte parat: die verwahrlost aussehende Frau
mit dem Fünfhundert-Dollar-Kinderwagen hatte ihn einer nichtsahnenden Yuppie-Mutter gestohlen; das attraktive, Händchen haltende Paar war auf einer angeblichen Geschäftsreise, und beide betrogen ihre Ehepartner. Das war eine Angewohnheit von Thorpe, Hintergründe und Motivationen für Wildfremde zu erfinden. Ich hatte immer den Verdacht, dass ihre echten Leben weit weniger abenteuerlich waren als die Geschichten, die er sich für sie ausdachte.
    Thorpe schlürfte an seiner Orangenlimo und sagte unvermittelt: »Übrigens habe ich interessante Neuigkeiten.«
    »Ach ja? Was denn?«
    »Ich schreibe an einem Buch.«
    »Das ist ja wunderbar«, sagte ich aufrichtig.
    Schon ganz am Anfang hatte Thorpe mir gestanden, dass es sein heimlicher Wunsch war, ein Schriftsteller zu sein. Noch während seines Studiums hatte er versucht, einige Kurzgeschichten zu veröffentlichen, aber nach einer Serie von Absagen hatte er aufgegeben. Ich wusste, dass irgendwo in einer Schublade ein halbfertiger Roman herumlag - »das halbe Englischinstitut hat so was«, hatte er einmal zu mir gesagt und Jahre seiner eigenen Arbeit mit einer wegwerfenden Handbewegung abgetan.
    »Einen Roman?«, fragte ich jetzt.
    »Nein, es ist eher ein Sachbuch.«
    »Worum geht es?«
    Er biss sich auf die Lippe, spielte mit dem Besteck, und nach einer langen Pause erklärte er schließlich: »Es geht um Lila.«
    Zuerst war ich überzeugt, mich verhört zu haben. »Was?«
    »Das Buch feiert ihr Leben und untersucht ihren Tod.«
    Das klang eingeübt, als hätte er das schon öfter gesagt. Doch die bloße Vorstellung, dass er ein Buch über Lila schreiben
könnte, war so befremdlich, dass ich einen Moment lang glaubte, er mache einen Witz.
    »Das ist nicht komisch«, sagte ich. »Warum sagst du denn so was?«
    »Es ist eine faszinierende Geschichte. Ich glaube, die Leute würden das gerne lesen.«
    Ich schob meinen Teller von mir. »Das kann nicht dein Ernst sein.« Immer noch wartete ich darauf, dass er mir sagte, es sei ein Scherz, aber das tat er nicht. Ein Mann kam mit mehreren Hunden an der Leine vorbei, und törichterweise versuchte Thorpe, die Stimmung durch einen Witz aufzulockern. »Der hier hat eine lukrative Karriere als Arzt aufgegeben, um sich seinen Traum vom professionellen Gassigeher zu erfüllen.«
    »Lila ist keine Geschichte«, sagte ich so laut, dass das Paar am Nebentisch sich zu uns umdrehte. »Sie ist meine Schwester.«
    Thorpe warf den beiden einen entschuldigenden Blick zu und senkte die Stimme. »Es tut mir leid. Ich hätte es nicht so sagen sollen. Es ist nur so, dass mir in den ganzen letzten Monaten, in denen du mir von Lila erzählt hast, klargeworden ist, dass so vieles an diesem Fall noch nicht ans Licht gebracht wurde. Die Mittel der Polizei sind knapp bemessen. Für die ist die Aufklärung des Verbrechens nur ein Job, eine unerwünschte Ablenkung. Vielleicht kann ich den Fall mit einem unvoreingenommenen Blick betrachten.«
    »Unter welchem Stein willst du denn noch nachsehen, der nicht längst umgedreht wurde?«
    »Irgendjemand muss doch etwas wissen. Zumindest kann ich vielleicht herauskriegen, mit wem Lila sich getroffen hat.«
    »Wenn du Privatdetektiv spielen willst, nur zu, aber bitte mach kein Buch daraus. Lila würde das schrecklich finden.«

    Ich sah ihm an, dass er schon während ich noch sprach seine Reaktion vorbereitete. »Sie war ein außergewöhnlicher Mensch, enorm begabt«, sagte er. »Das Buch ist eine Hommage an sie.«
    Ich spürte mein Gesicht heiß werden. »Aber du kanntest sie doch gar nicht.«
    »Mir kommt es aber vor, als hätte ich sie gekannt. Ohne dich wäre sie für mich nichts als eine Meldung in den Nachrichten gewesen. Aber du hast sie für mich real gemacht.
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