Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
Vom Netzwerk:
unter dem Schirm seiner Kappe hervor einen Blick zu. Im flackernden roten Kerzenlicht war nur sein leicht vorspringendes Kinn zu erkennen, der Rest seines Gesichts duckte sich in die Schatten.
    »Hallo«, sagte ich.
    »Guten Abend.«

    »Sie sind Amerikaner«, sagte ich überrascht. Ausländer waren selten in Diriomo. Einem amerikanischen Landsmann mitten in der Nacht ausgerechnet in diesem Café zu begegnen war ausgesprochen merkwürdig.
    »Ja, das bin ich«, sagte er. Dann winkte er höflich mit der Hand, beugte sich über den Tisch und blickte in sein Buch. Er hielt die Kerze über die Seite, und ich überlegte, ob ich ihn darauf aufmerksam machen sollte, dass Lesen im Dunkeln schlecht für die Augen war. Er wirkte wie der Typ Mann, dem man solche Dinge erklären musste, der Typ Mann, um den sich jemand kümmern sollte. Bald brachte Maria ihm Kaffee. Etwas an der Art, wie er die Tasse hielt, wie er die Seiten seines Buches umblätterte, selbst wie er den Kopf in stillem Dank zu Maria hob, als sie ihm eine Serviette und eine Schüssel mit Zuckerstückchen brachte, kam mir bekannt vor. Ich betrachtete ihn eingehend, fragte mich, ob das Gefühl, ihn zu kennen, nur eine Illusion war, ausgelöst davon, dass ich schon zu lange allein unterwegs war. Doch je länger ich dort saß, desto überzeugter war ich, dass es sich nicht nur um die vage Vertrautheit unter Landsleuten handelte, sondern um etwas Persönlicheres.
    Während er, scheinbar ohne mich wahrzunehmen, seinen Kaffee trank und in seinem Buch las, versuchte ich, mich an die Umstände zu erinnern, unter denen ich ihm schon einmal begegnet sein könnte. Ich spürte mehr, als dass ich es wusste, dass es vor langer Zeit gewesen war und dass zwischen uns ein gewisser Grad von Intimität bestanden hatte; diese Empfindung von Intimität, gemischt mit meiner mangelnden Erinnerung war in höchstem Maße verunsichernd. Kurz schoss mir durch den Kopf, ob ich mit ihm geschlafen haben könnte. Nach dem Tod meiner Schwester hatte ich eine Phase durchlebt, in der ich mit vielen Männern schlief. Das lag aber
schon lange zurück, so lange, dass es mir fast wie ein anderes Leben vorkam.
    Maria brachte mein Essen. Ich wartete, bis die dampfenden Kochbananenblätter etwas abgekühlt waren, bevor ich sie abschälte, das nacatamal in die Hände nahm und hineinbiss. Zu Hause hatte ich mehrfach versucht, Marias Mischung aus Schweinefleisch, Reis, Kartoffeln, Minzblättern, Rosinen und Gewürzen nachzukochen, aber es schmeckte irgendwie nie richtig gut. Doch wenn ich ihr das Rezept entlocken wollte, lachte sie nur und tat, als verstünde sie meine Bitte nicht.
    »Die sollten Sie mal probieren«, sagte ich zwischen zwei Bissen zu dem Mann.
    »Ich kenne Marias nacatamales «, antwortete er und warf wieder einen kurzen Blick in meine Richtung. »Köstlich, aber ich habe schon gegessen.«
    Was konnte er hier um diese Uhrzeit machen, überlegte ich, wenn er keinen Hunger mehr hatte? In Diriomo saßen Männer nicht allein im Café und lasen Bücher, nicht einmal amerikanische Männer. Einige Minuten später, als ich mein Geld zum Zahlen herausholte, klappte er sein Buch zu und starrte einige Sekunden lang auf das Cover, als müsse er seinen Mut zusammennehmen, dann stand er auf und kam an meinen Tisch. Unverhohlen beobachtete uns Maria aus dem Küchendurchgang. Der rote Vorhang wurde zur Seite gezogen, der Raum von weichem Licht erfüllt. Mir schoss flüchtig durch den Kopf, dass Maria diese Begegnung vielleicht meinetwegen eingefädelt hatte, vielleicht wollte sie sich im Kuppeln versuchen.
    Der Mann zog seine Baseballkappe vom Kopf und hielt sie in beiden Händen. Sein struppiges Haar streifte die niedrige Decke und lud sich statisch auf. »Verzeihung«, sagte er. Jetzt konnte ich sein Gesicht ganz erkennen - die großen dunklen
Augen und den breiten Mund, die hohen Wangenknochen und das kräftige, von Stoppeln bedeckte Kinn - und wusste sofort, wer er war.
    Ich hatte ihn seit achtzehn Jahren nicht mehr gesehen. Damals auf dem College hatte ich einige Monate lang ununterbrochen an ihn gedacht. Ich hatte die Zeitung nach seinem Namen abgesucht, war mit dem Auto an seiner Erdgeschosswohnung in Russian Hill vorbeigefahren, hatte in einem kleinen italienischen Restaurant in North Beach, in dem er verkehrte, zu Mittag gegessen, obwohl die Preise mein Studentenbudget deutlich überstiegen. Damals hielt ich es für möglich, dass, wenn ich ihn nur unaufhörlich beschattete, ich etwas begreifen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher