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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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von damals noch einmal abzufahren, von Amsterdam nach Paris, von Paris nach Barcelona, von da aus quer rüber nach Venedig, hoch durch Deutschland und am Ende zurück in die Niederlande. Ich besuchte dieselben Museen, versuchte sogar, in denselben Unterkünften zu schlafen, obwohl ich sie meistens nicht finden konnte, da ich mir nie die Mühe gemacht hatte, ein Tagebuch zu führen.

    Ich kaufte mir ein Buch mit Kurzbiografien berühmter Mathematiker und suchte einige Gräber auf - Blaise Pascal in Saint-Etienne-du-Mont in Paris, Carl Gauß auf dem Albani-Friedhof in Göttingen, Leibniz in Hannover, Christian Doppler auf dem Cimitero di San Michele in Venedig. Die letzten Ruhestätten der Mathematiker zu besichtigen, die Lila so bewundert hatte, war ein posthumes Geschenk an meine Schwester, eines, das keinem praktischen Zweck diente; aber auf eine gewisse Art und Weise, die ich mir selbst nicht recht erklären konnte, fühlte ich mich ihr dadurch näher.
    Nach meiner Rückkehr arbeitete ich weiter in Aushilfsjobs, wechselte von einem Büro zum nächsten, ohne ein Gefühl von Freude oder Bestimmung. Oft fragte ich mich, was Lila wohl täte, wenn sie noch lebte. Sie hätte auf jeden Fall etwas aus ihrem Leben gemacht, da war ich mir sicher. Zehn Jahre nach ihrem Tod konnte ich den Gedanken nicht abschütteln, dass ich noch immer das Leben einer imaginären Zahl führte.
    Und dann, als ich schon anfing, daran zu zweifeln, dass ich jemals etwas finden würde, wofür ich mich begeistern könnte, entdeckte ich meine Berufung im Kaffee. Die Erkenntnis kam eher zufällig, manche mögen es Glück nennen. Wobei Lila niemals an so etwas geglaubt hatte. Einmal, als ich laut ihr großes Glück bejubelte, einen Walkman in einer Schultombola gewonnen zu haben, hatte Lila gesagt: »Was wir Glück nennen, ist nur das Ergebnis von in Erscheinung tretenden Naturgesetzen, eine Frage von Wahrscheinlichkeiten.«
     
    Ein Kaffeeverkoster muss, wie ein Sommelier oder ein Parfumeur, eine ausgezeichnete Nase haben. Ich habe meine von meiner Mutter geerbt, einer passionierten Gärtnerin, die ihre Pflanzen nicht nach Farbe, sondern nach Geruch arrangierte.
Wenn ich als Kind durch den Garten meiner Mutter lief, war ich begeistert davon, wie die berauschende Süße des Jasmins der Säure der Zitronenbäume wich, oder wie der Moschusduft der Glyzinie den harzigen Geruch von Salbei unterstrich. Ich liebte die Frische von Pfefferminze auf einem Teppich aus Zedernrindenmulch, die Erdigkeit von Rosen, gepaart mit zartem Lavendel. Einmal, als ich noch in der Grundschule war, sagte meine Mutter zu mir, ich sei ein Naturtalent mit meiner Nase. Das Kompliment bedeutete mir viel, und ich klammerte mich jahrelang daran. Meine Mutter unterstützte uns Mädchen immer sehr, und nichts hätte ihr mehr Freude bereitet, als viele Anlässe zu bekommen, mich zu loben. Doch während Lilas Geistesgaben sie zu einem Magnet für unwillkürliches und aufrichtiges Lob machten, wusste ich, dass meine Mutter es bei mir etwas schwerer hatte.
    Jahrzehnte nach dem eigentlichen Ereignis erinnerte ich mich noch an meine erste Tasse Kaffee, heimlich mit meinem Vater eines Sonntagmorgens genossen, als Lila und meine Mutter in der Kirche waren. Ich war acht Jahre alt und musste wegen einer schmerzlichen Begegnung mit Giftsumach auf einem Familien-Campingausflug zu Hause bleiben.
    Den Geruch von Kaffee hatte ich schon immer geliebt, wie er morgens das Haus erfüllte, wenn meine Eltern sich für die Arbeit fertig machten. Aber an jenem Tag bemerkte ich etwas Neues in der Küche: eine kleine Holzkiste, auf der oben ein umgedrehter Metallbecher und seitlich eine Kurbel befestigt waren. Einige dunkle Bohnen lagen auf dem Boden des Bechers. Mein Vater saß am Küchentisch und las die Zeitung.
    »Was ist das?«, fragte ich.
    »Eine Kaffeemühle.«
    »Wo kommt die her?«
    »Deine Mutter und ich haben sie in Venedig gekauft.«

    »Was ist Venedig?«
    »Eine Stadt in Italien. Dort waren wir auf Hochzeitsreise.«
    »Warum habe ich die noch nie gesehen?«
    »Ich hab sie gefunden, als ich die Garage aufgeräumt habe. Probier sie doch einfach mal aus.«
    Ich drehte und drehte die Kurbel und beobachtete, wie die Zähne unten im Becher die Bohnen in immer kleinere Stückchen zerbrachen und dabei einen üppigen nussigen Geruch freisetzten. Dann zog ich die kleine Schublade heraus, in die das Kaffeemehl gefallen war, hielt sie mir unter die Nase und schnüffelte. Es war wunderbar.
    »Ich will auch
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