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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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Du hast sie wichtig gemacht.«
    »Ich flehe dich an«, sagte ich, »ganz im Ernst, als Freund.«
    In den letzten Monaten hatte ich Thorpe von Lilas beinahe obsessivem Wunsch nach Privatsphäre erzählt. Das war der Grund, warum sie lieber zu Hause wohnte als in einer Wohnung; in einer Wohnung hätte sie Mitbewohner gehabt. Deshalb ging sie auch nur selten ans Telefon und hatte so wenige Freunde. Wahrscheinlich hatte auch die Tatsache, dass sie Zahlen so sehr mochte, etwas damit zu tun: Zahlen hielten Abstand. Sie kommunizierten ohne die Kompliziertheit von Gefühl. Zahlen wohnte eine Ordnung inne, die in menschlichen Beziehungen unmöglich zu finden war. Ihr wäre übel geworden, wenn sie ihr Gesicht groß auf allen möglichen Titelblättern gesehen, ihren Namen in den Fernsehnachrichten gehört hätte. Ein Buch wäre noch schlimmer. Bücher wanderten von Hand zu Hand, wurden in Bibliotheken aufbewahrt. In einem Buch würde sie ewig das Opfer bleiben.
    Thorpe lehnte sich zurück. »Ich stecke schon viel zu tief drin, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen. Aber ich würde mich besser fühlen, wenn ich deine Billigung hätte. Die Rohfassung ist halb fertig. Es wäre großartig, wenn du es dir mal ansehen würdest. Einen Agenten habe ich schon gefunden.«

    »Ist dir denn nie in den Sinn gekommen, dass du mich vorher fragen solltest?«
    Er antwortete nicht.
    »Ich habe dir vertraut«, sagte ich und kam mir dumm vor. Seine unzähligen Fragen fielen mir ein, sein unablässiges Notizenmachen, und wie ich jede Frage gewissenhaft beantwortet hatte, ohne mir je Gedanken über seine Motive zu machen.
    Er streckte seinen Arm über den Tisch und legte seine Hand auf meine. Ich zog sie weg.
    »Ich dachte mir schon, dass du vielleicht nicht so begeistert wärest, und ich kann das gut nachvollziehen. Deshalb wollte ich die Sache ins Rollen bringen, bevor ich dir davon erzähle.« Er holte einen Schnellhefter aus seiner Tasche und schob ihn über den Tisch. Ich klappte ihn auf. Der Papierstapel darin war gut fünf Zentimeter dick. Beim Lesen der Titelseite wurde mir schlecht.
    MORD IN DER BUCHT
    Eine wahre Geschichte aus San Francisco Noir
    Von Dr. Andrew Thorpe
    In den folgenden Wochen sah ich Thorpe mehrmals bei unterschiedlichen Gelegenheiten. Jedes Mal bat ich ihn inständig, das Buch nicht zu beenden, und jedes Mal lehnte er ab. »Hast du es gelesen?«, fragte er dann erwartungsvoll. »Ich glaube, du würdest es dir anders überlegen, wenn du es gelesen hättest.« Aber ich wollte es nicht lesen. Ich brauchte das Grauen von Lilas Tod nicht durch die Augen eines anderen Menschen noch einmal neu zu erleben.
    Unsere letzte Begegnung fand an einem nebligen Tag am Ocean Beach statt, nachdem ich meinen Eltern von dem Buch
berichtet hatte. Sie waren am Boden zerstört gewesen, und mein normalerweise ruhiger Vater hatte seine Wut nicht im Zaum halten können.
    »Du hast Andrew Thorpe in dieses Haus gebracht«, sagte er. »Er hat mit uns gegessen. Wir haben ihm vertraut, weil er dein Freund war.«
    Thorpe und ich spazierten damals am Wasser entlang, die Gesichter kalt und feucht vom Nebel. »Ich bitte dich ein letztes Mal«, begann ich. »Für mich, für meine Eltern, für Lila. Tu es nicht.«
    »Das kann ich nicht, Ellie.«
    »Ist das alles?«
    Er blickte aufs Meer, wo ein gigantisches Schiff langsam auf die Bucht zukroch. »Es tut mir leid«, sagte er.
    Ich drehte mich um und ging. Auf halbem Weg zur Promenade hörte ich ihn etwas rufen, aber seine Worte wurden von den Wellen übertönt.

4
    NACH LILAS TOD zog ich mehrere Jahre lang ziellos umher. Für meinen Abschluss in Literatur brauchte ich länger, als ich sollte, und danach jobbte ich als Kellnerin und Bürohilfe, um meine Reisen durch die USA zu finanzieren - ausgedehnte Fahrten in Schrottkisten und mit wechselnden Freunden. Schließlich fuhr ich allein nach Europa. Im Sommer nach meinem Highschool-Abschluss und Lilas Examen in Berkeley hatten unsere Eltern uns beiden eine sechswöchige Rucksacktour durch Europa geschenkt. Wir hatten so viel Spaß unterwegs, dass wir uns schworen, den Trip fünf Jahre später zu wiederholen. Aber Lila war nicht mehr da, und das Datum verstrich ohne großes Aufsehen. Ich lebte in einer Art Schwebezustand, hatte noch keinen klaren Weg vorwärts gefunden. Vier Jahre später als geplant kaufte ich mir ein One-way-Ticket über den Atlantik. Den Sommer meines siebenundzwanzigsten Lebensjahres verbrachte ich damit, Lilas und meine gemeinsame Route
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