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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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die Trauer irgendwie ausmerzen.
    Aber bei Thorpe hielt ich nichts zurück. Ich sprach mit ihm über Dinge, die Lila und ich als Kinder getan hatten. Ich beschrieb ihre eigenartigen Angewohnheiten und Neurosen: Sie zog immer den linken Schuh zuerst an und machte ein paar Schritte im Zimmer, wie um den Boden zu testen, erst dann zog sie den anderen an. Sie baute Beziehungen zu bestimmten Zahlen auf, wie begeisterte Leser Beziehungen zu Figuren aus Büchern aufbauen - eine ihrer Lieblingszahlen war die Achtundzwanzig.
    »Warum die Achtundzwanzig?«, wollte Thorpe wissen.
    »Weil sie eines dieser seltenen Phänomene ist, die unter die Kategorie ›vollkommene Zahl‹ fallen«, sagte ich. »Ihre echten Teiler - 1, 2, 4, 7 und 14 - ergeben zusammen 28. Die Summe der ersten fünf Primzahlen ist ebenfalls 28. Es gibt genau 28 einfache konvexe Körper aus regelmäßigen Vielecken. Unser Universum erstreckt sich über 28 Milliarden Lichtjahre von einem Ende zum anderen. Die Achtundzwanzig ist außerdem eine harmonische Teilerzahl, eine Keith-Zahl und die neunte und letzte Zahl im magischen Quadrat Kubera-Kolam.«
    »Interessant«, sagte Thorpe.
    Davon ermutigt erzählte ich ihm mehr. Obwohl Lila hübsch war, konnte sie Spiegel nicht ausstehen und gab sich alle Mühe, ihnen aus dem Weg zu gehen. In ihrem Zimmer gab es keinen einzigen Spiegel, und als meine Mutter sie endlich in ihrem letzten Jahr auf dem College dazu brachte, Lippenstift zu benutzen, war er häufig leicht über die Konturen gemalt, weil sie ihn blind aufgetragen hatte.
    Ein Punkt, der immer wieder in unseren Unterhaltungen
zur Sprache kam, war die Frage, wer Lila getötet hatte. Tatsache war, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte. Soweit ich wusste, gab es niemanden, der sie nicht mochte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sie sich bei jemandem unbeliebt gemacht hatte. Ich erzählte Thorpe, was ich meinen Eltern nicht erzählte: dass ich hoffte, es wäre ein Fremder gewesen. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass es jemand war, den sie kannte und dem sie vertraute.
    »Was ist mit dem Mann, mit dem sie sich traf?«, fragte Thorpe einmal. »Könnte er sie ermordet haben?«
    Ich zuckte zusammen. »Bitte nicht dieses Wort.« Mord war der von Reportern bevorzugte Begriff, aber ich konnte mich nicht überwinden, ihn zu verwenden. Er war zu plastisch. Ich war dankbar für die Behördensprache: Tötungsdelikt klang irgendwie etwas neutraler. »Natürlich interessiert sich die Polizei stark für ihn«, sagte ich. »Aber niemand weiß, wer er ist. Die beiden waren äußerst diskret.«
    Er notierte sich etwas auf einem Block, und ich redete weiter. Bei Thorpe hatte ich das Gefühl, alles sagen zu können. Er hörte zu, nickte, stellte Fragen. Rückblickend betrachtet hätte mir der allzeit gezückte Stift eine Warnung sein müssen, die Art, wie er manchmal mitten im Gespräch auf seinem Block zu kritzeln anfing. Doch jedes Mal, wenn ich mich mit ihm traf, las er gerade studentische Hausarbeiten oder machte sich Unterrichtsnotizen, deshalb dachte ich mir nichts dabei.
    In dem Semester nach Lilas Tod belegte ich bei Thorpe den Kurs: »Überblick über die osteuropäische Literatur«. Es war der einzige Kurs, den ich gewissenhaft besuchte. Unsere privaten Gespräche begannen immer mit dem, was wir in der jeweiligen Woche gerade im Unterricht lasen - Milan Kunderas Das Buch vom Lachen und Vergessen , Václav Havels Versuchung , Bohumil Hrabals Allzu laute Einsamkeit -, und endeten
mit Lila. Ich hatte allmählich den Eindruck, dass meine Freunde mich mürrisch und schwer zu ertragen fanden; obwohl ich nachvollziehen konnte, dass ein Trauernder nicht unbedingt die angenehmste Gesellschaft ist, konnte ich mich einfach nicht von dem ablenken, was meiner Schwester zugestoßen war. Thorpe war der eine Mensch, der des Themas nie überdrüssig zu werden schien. Mehr als einmal überlegte ich, ob er vielleicht in mich verliebt war. Warum sonst, so fragte ich mich, sollte er weiterhin so viel Geduld mit mir haben?
    Meistens trafen wir uns in dem Café, aber manchmal blieb ich auch einfach nach dem Unterricht im Seminarraum. Er hatte große, abgerundete Fenster, durch die ich die Mündung der Bucht und die Golden Gate Bridge sehen konnte. Der Anblick der sich aus dem Nebel erhebenden Brücke, so fern und doch so vertraut, war tröstlich. Lila und ich waren viele Mal zusammen darübergelaufen. Seit ich mich erinnern konnte, hatten wir das zweimal im Jahr gemacht - an ihrem
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