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Niemand, Den Du Kennst

Titel: Niemand, Den Du Kennst
Autoren: Michelle Richmond
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eine ihrer Berechnungen zu lesen, ungefähr so, als würde man ein ganz normales Wort so schnell wie möglich ein Dutzend Mal hintereinander aufsagen; für sich genommen sahen die Zahlen und Buchstaben vertraut aus, aber so dicht nebeneinander angeordnet wirkten sie geheimnisvoll, wie ein fremder Code, den nur ein Hochbegabter knacken könnte. Während ich mich in Independent-Musik und osteuropäische Romane vertiefte, füllte Lila ihre Zeit mit Gleichungen und Algorithmen, langen Abfolgen von Buchstaben und Ziffern, die sich quer und längs über das Millimeterpapier zogen.
    »Was bedeutet das alles?«, hatte ich sie einmal auf ihrem Bett sitzend und durch das Notizbuch blätternd gefragt. Laut las ich von einer Seite mit Eselsohr vor: »Jede gerade Zahl größer als 2 kann als Summe zweier Primzahlen geschrieben werden.«
    Lila probierte gerade ein neues Kleid an. Meine Mutter kaufte ihr ständig modische Kleidung, um ihre skurrile, selbst gemachte Garderobe aufzupeppen. Aus Freundlichkeit probierte Lila sie an, führte sie unseren Eltern vor und gab einen positiven Kommentar ab, bevor sie die Sachen in ihren Schrank hängte, wo sie dann unangetastet blieben, bis ich sie an mich nahm.
    »Ach, nur eines der berühmtesten mathematischen Probleme aller Zeiten, die Goldbachsche Vermutung«, sagte Lila. »Seit 1742 versuchen Mathematiker, sie zu beweisen.«
    »Lass mich raten. Meine begnadete Schwester wird diejenige sein, die sie löst.«

    »Man löst eine Vermutung nicht, man beweist sie.«
    »Was ist der Unterschied?«
    »Mathe für Anfänger«, sagte sie und zwängte ihre Füße in die Pumps, die meine Mutter passend zu dem Kleid erworben hatte. »Eine Vermutung ist eine mathematische Aussage, die allem Anschein nach wahr ist, aber noch nicht formal bewiesen wurde. Wenn es einen Beweis gibt, dann wird sie zu einem Theorem oder auch Satz. Solange es eine Vermutung ist, kann man sie zwar bei dem Versuch, andere mathematische Beweise zu erbringen, benutzen, aber jedes Ergebnis, auf das man unter Zuhilfenahme einer Vermutung kommt, ist ebenfalls nur eine Vermutung. Kapiert?«
    »Danke, dass du das Genie in der Familie bist«, sagte ich. »Nimmt mir den Druck.«
    Lila schleuderte die Schuhe von sich und ließ sich aufs Bett fallen. »Wenn ich sie wirklich beweisen sollte, dann kann ich mir nur ein halbes Genie auf die Fahne schreiben. Ich habe einen Partner. Es ist ein Pakt - wir werden das Problem gemeinsam lösen, und wenn es die nächsten dreißig Jahre dauert.«
    »Ein Partner, soso. Und wer ist er?«
    »Nur so ein Typ, den ich kenne.«
    »Wenn es dreißig Jahre dauert, kannst du ihn genauso gut heiraten.«
    »Seine Frau könnte etwas dagegen haben.«
    »Weiß sie, dass ihr Mann mathematisch mit dir verlobt ist?«
    Lila schob einen BH-Träger hoch und zupfte am Ausschnitt des Kleides. »Sie ist Künstlerin. Ich bezweifle, dass sie jemals von der Goldbachschen Vermutung gehört hat.«
    Als uns die Nachricht von dem Rucksack erreichte, gingen wir zur Messe. Selbst mein Vater, dessen einziges Zugeständnis
an die Religion während seines gesamten Lebens bisher gewesen war, einmal im Jahr am Ostersonntag durch die breiten Kirchentore zu treten, schloss sich an. Gemeinsam zündeten wir eine Kerze für Lila an. Während meine Mutter laut betete, betete ich auch, was ich seit Kindertagen nicht mehr getan hatte. Ich war nicht unbedingt gläubig, aber falls tatsächlich eine Chance bestand, dass Gott zuhörte, dann wollte ich alles richtig machen.
    Am Montag, zwei Tage nachdem Lilas Rucksack gefunden worden war, stolperte ein Wanderer in Armstrong Woods, nahe der Stadt Guerneville am Russian River, abseits des Weges über eine teilweise von Laub bedeckte Leiche. Da war keine Wanderausrüstung, kein Ausweis. Es war vier Uhr nachmittags, als meine Eltern nach Guerneville losfuhren, hundertfünfundvierzig Kilometer nördlich von San Francisco. Ich stand an den großen Fenstern unseres Hauses und sah zu, wie der dunkelgraue Volvo aus der Garage rollte. Am Donnerstag war die Müllabfuhr da gewesen, und in dem Chaos nach Lilas Verschwinden hatte keiner von uns daran gedacht, die Tonnen wieder hereinzuholen. Das Auto hielt an, und mein Vater stieg aus und schob die leeren Mülltonnen in die Garage. Dann setzte er sich wieder in den Wagen, und ich hörte das Summen des sich schließenden Garagentors. Durch die Windschutzscheibe konnte ich meine Eltern erkennen, aber nur von den Schultern abwärts. Der dunkelblaue Rock meiner Mutter
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