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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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wie – Ich weiß nicht, an wen mich der erinnert.«
    »Der ist von der Polizei, von dem habe ich ein Bild in der Zeitung gesehen.«
    »Der schaut aber gar nicht so aus, als ob er bei der Polizei wäre.«
    »Die schauen heutzutage alle nimmer so aus.«
    »Aber was ist das! Da hinten kommt schon wieder ein Hubschrauber.«
    »Tatsächlich. Siehst du die Filmkamera, die da vorne an die Kufe montiert ist? Vielleicht war das alles gar nicht echt, vielleicht wird da was gedreht.«
    »Ja, das kann sein. Bergfilme sind groß im Kommen. Jetzt weiß ich, an wen mich der erinnert. An diesen Engländer – diesen Schauspieler – Hugh Grant.«
    »Du meinst, der Hugh Grant macht in einem Film mit, der auf der Zugspitze spielt?«
     
    Die Menge der Gaffer und Erlebnistouristen teilte sich, und zwei weitere Polizisten erschienen. Polizeiobermeister Franz Hölleisen, der zweite ortskundige Polizist, und Hauptkommissar Ludwig Stengele, der versprengte Allgäuer aus Mindelheim. Stengele war ein großer, unförmiger Klotz, der sich allerdings jetzt erstaunlich geschmeidig, fast katzenhaft im Gelände bewegte.
    »Ich habe extra meinen Kurzurlaub unterbrochen«, sagte er statt einer Begrüßung. »Aber ich will mir die Stelle einmal ansehen.«
    »Gut«, sagte Jennerwein, »aber wir müssen erst warten, bis der Hubschrauber mit der Bergung fertig ist.«
    Ludwig Stengele warf einen quietschgelben Rucksack vor sich hin und öffnete ihn mit flinken Fingern. Er hatte natürlich seinen eigenen Sitzgurt, seine eigenen Karabiner, sein eigenes Bergzeug dabei. Er verwandelte sich innerhalb von Minuten vom hölzernen Schreibtischbeamten, der er zu sein schien (und der er manchmal auch war), zum steinbockgleichen Bergmenschen. Er war eindeutig der beste Bergsteiger im Team. Stengele ließ sich die Linie, die von der kleinen Höhle senkrecht nach oben führte, genau zeigen, und an dem Punkt wurde er hinuntergelassen. Schon nach dem ersten Meter besah er sich die Wand genauer, er tastete sie mit seinen Händen ab, er zog dazu die Handschuhe aus. Mehr als einmal riss er ein kleines Bröckchen Stein aus der Wand, praktizierte es in ein Plastiktütchen und steckte es in die Hosentasche. So untersuchte er die ganze Wand aufs Genaueste. Er brauchte fast eine Stunde, bis er an der Felsspalte war, aus der die Bergwacht die Leiche inzwischen geborgen hatte. Vorsichtig stützte er sich ab, noch vorsichtiger als Jennerwein und Nicole vorher, dann schwang er sich hinein. Er setzte sich langsam in die leere Höhle, in die Position, in der der Kletterer in der altmodischen Bergkleidung schon ein paar Wochen gelegen hatte. Stengele schaute nach oben, an die kleine Decke der Höhle. Dort entdeckte er etwas äußerst Merkwürdiges.

4
    I woke up this morning with a awful aching head
    I woke up this morning with a awful aching head
    My new man had left me, just a room and a empty bed
    Jodler von Bessie Smith, Chattanooga, 1928
    Der Putzi trainierte hart und verbissen. Bis zum Sommer musste er es draufhaben, bis zum Mai, spätestens bis zum Juni, bis zum Beginn seines großen Vorhabens musste er alle Griffe und Kniffe aus dem Effeff beherrschen, das gehörte zu seinem Plan.
     
    Es war Frühjahr, und in den Gärten des Loisachtales blühten bereits die ersten Blumen. In einem besonders gut gepflegten Rasen schossen Krokusse und Hyazinthen hoch, in den Beeten rund ums Haus reckten sich Osterglocken und Narzissen der Sonne entgegen, und der Putzi, wie er überall genannt wurde, übte vom Balkon des zweiten Stockes aus das Abseilen. Es war der Balkon hinter dem Haus, und große Tannenbäume verhinderten, dass jemand seine ungeschickten Versuche beobachten konnte. Verdammte Knoten, verdammte Schlingen, fluchte der Putzi leise. Aber es half nichts, das hatte er sich fest vorgenommen, und er wollte es durchziehen. Er hatte eine alte Kletterausrüstung auf dem Speicher gefunden, mit der vermutlich noch sein Vater selig auf die Berge gestiegen war. Für den Putzi kam kein Klettergarten für Anfänger und erst recht keine schicke Kletterschule mit Prosecco-Bar in Frage, er übte an dem Findling hinterm Haus – oder eben das
abseiling
, wie die Amerikaner es nannten, vom Balkon. Vielleicht würde er es der Mutter irgendwann einmal sagen, aber jetzt war noch nicht der rechte Zeitpunkt dazu. Der Putzi klinkte das Seil am Dachsparren ein, sprang auf die Balkonbrüstung, balancierte ein wenig, ging dann in die Hocke und blieb auf dem schmalen Balken sitzen. Er blickte hinunter
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