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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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auf die Blumenrabatten, die seine Mutter im Garten angelegt hatte. Er verspürte plötzlich große Lust, mitten hinein zu springen in das ausgeklügelte Arrangement aus Forsythiensträuchern, Stiefmütterchen und Steinbrech, er würde vielleicht sogar weich landen in den einladenden Polstern aus Phlox und Gedenkemein, zumindest unverletzt. Oder zumindest nicht schwer verletzt. Doch nun wandte er den Blick ab und stieg wieder auf die Innenseite des Balkons. Er schnallte den Rucksack um, den er mit zwanzig Kilo Steinen beladen hatte, dann stieg er erneut auf die Brüstung, balancierte und ging abermals in die Hocke. Morgen würde er statt der zwanzig Kilo dreißig oder gleich vierzig nehmen. Jetzt glitt er langsam am Seil hinunter, direkt auf die Primeln zu.
     
    Anders als Hauptkommissar Ludwig Stengele oder gar der Bergführer Johnny Winterholler war der Putzi ein eher durchschnittlich begabter Kletterer. Er war zwar von kräftiger Statur, er hatte auch die Zähigkeit und Verbissenheit, die man bei dieser vertikalen Fortbewegungsart braucht, aber der Putzi war einfach nicht wendig genug, ihm mangelte es an der gewissen montanen Eleganz. Er hatte nichts von der katzen-, gemsen- und insektenhaften Körperbeherrschung, die den ganz großen Kletterer, den alpinen Mozart ausmacht. Das wusste er auch selbst, umso mehr arbeitete er an seiner Technik. Der Putzi wohnte zusammen mit seiner Mutter in einem gepflegten Haus, das am südlichen Rande des Kurorts lag. Nach vorne zur Straße hinaus ging der kleine Laden, den er zusammen mit seiner Mutter führte. Oft stand sie im Laden, wenn er hinten heimlich das
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übte. Was er nicht wusste: Seine Mutter hatte ihn schon mehr als ein Mal bei diesen Kletterübungen beobachtet.
     
    »Ein bisserl Auslauf muss ich ihm doch lassen, dem Buben«, sagte die Mutter zu ihrer Lieblingskundin, der Jasmin Siebenrock, die zwar nie etwas kaufte, aber immer die allerneuesten Neuigkeiten aus dem Ort wusste.
    »Ein
bisserl
Auslauf ist gut«, entgegnete die Siebenrockin. »Sich tagelang irgendwo in der Weltgeschichte rumtreiben und auch über Nacht nicht heimkommen – das gäbe es bei meinem Buben nicht.«
    Ja, so siehst du aus, dachte sich die Mutter vom Putzi, und was ist aus deinem Buben geworden? Ein Pfennigfuchser ist er, ein Finanzbeamter im mittleren Dienst, was soll denn das für ein Beruf sein!
    »Du verwöhnst ihn jedenfalls viel zu sehr, den Buben«, legte die Siebenrockin nach.
     
    Jetzt stellt man sich unter dem Putzi vielleicht einen zehn- oder sechzehn-, vielleicht gerade noch zwanzigjährigen Burschen vor, aber der Putzi war geschlagene einunddreißig, ein ausgewachsenes Mannsbild war er, mit einem kleinen Hang zum Fettleibigen. Er hatte etwas Stattliches
und
Kindliches zugleich, und genau so eine Kombination schafft Vertrauen. Er war beliebt und bekannt im Kurort. Ein herzensguter Mensch wäre er, hieß es, aber ein wenig getuschelt wurde natürlich auch. Der spinnt doch ein bisserl, meinten einige hinter vorgehaltener Hand. Und wenn man genau hinschaute, hatte der Putzi tatsächlich manchmal einen wundersamen Blick, fahrige Bewegungen, einen sonderbar unrunden und ferngesteuerten Gang. Manche meinten, der Föhn habe ihm sein Gemüt durcheinandergewirbelt, andere glaubten, er wäre einmal irgendwo heruntergefallen beim Klettern, er hätte sich den Kopf angeschlagen und deshalb dürfe man da nicht so sein.
    »Aber manchmal könnte ich aus der Haut fahren«, sagte die Mutter vom Putzi. »Er packt seinen Rucksack, geht in aller Früh fort, der Bazi. Und kommt dann tagelang nicht mehr heim, der hundshäuterne Falott, der wetterwendische.«
    »Aber so eine Wanderlust, so ein Aufunddavon ist doch grade für uns Werdenfelser nichts Ungewöhnliches.« Da hatte die Jasmin Siebenrock recht. Der Drang ins Grüne war geradezu eine Spezialität des einheimischen Kurortbewohners. So wie es den Hamburger hinaus aufs Meer zieht und den Norweger vermutlich in die Fjorde, schwört der Alpenländler auf die Vereinigung mit der Vegetation. »Da kommen halt die alten alplerischen Gene heraus. Warum regst du dich denn da so auf? Das vergeht schon wieder.«
    »Ich frage mich auch, wo der dann eigentlich übernachtet!«
    Die Siebenrock Jasmin kicherte.
    »Ja, merkst du das denn nicht?«
    »Was soll ich nicht merken?«
    »Eine Freundin wird er halt haben, dein Putzi.«
    »Was, eine Freundin? Der hat doch keine Freundin. Das würde ich doch merken.«
    »Das merkst du eben nicht als Mutter.
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