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Niedertracht. Alpenkrimi

Niedertracht. Alpenkrimi

Titel: Niedertracht. Alpenkrimi
Autoren: Jörg Maurer
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hatte er sich nicht bemerkbar gemacht? Soviel Jennerwein wusste, waren die heutigen Bergsteiger doch mit allen möglichen Kommunikationsmitteln ausgerüstet. Abgesehen von Mobiltelefonen und Signalpistolen gab es doch hundert andere Dinge, um in Bergnot auf sich aufmerksam zu machen. Und wie musste er um sein Leben geschrien haben! Jennerwein blickte nach oben. Da ging es sechzig Meter hinauf, pausenlos brandeten Winde an die Felswand, wahrscheinlich schaffte es ein Hilferuf keine zwanzig Meter. Jennerwein zog sich einen Handschuh über und drehte die Leiche etwas zur Seite. Sie war federleicht. Unter dem Körper kam ein Rucksack zum Vorschein. Auch dieser halbgefüllte Rucksack war nicht grellbunt, wie es die heutigen Rucksäcke sind, er war ebenso altmodisch gräulichgrau wie die Kleidung. Jennerwein ließ die Leiche behutsam auf den Rucksack zurückgleiten. Er gab Ostler Bescheid, dass er wieder hochgezogen werden wollte.
     
    »Hallo Chef!«, rief Nicole Schwattke, die Recklinghäuser Austauschkommissarin, als der Kommissar oben angelangt war und sich aus der Halterung löste. Nicole Schwattke war das jüngste Mitglied im Team Jennerweins, und sie hatte sich als echte Bereicherung erwiesen.
    »Grüß Sie, Nicole«, entgegnete Jennerwein, »wie schmeckt Ihnen die Bergluft?«
    »Sehr gut, und ich möchte mir die Stelle in der Wand ebenfalls ansehen.«
    Maria Schmalfuß, die sich noch immer in ehrfurchtsvollem Abstand von der Felskante aufhielt, blickte skeptisch. Doch Jennerwein nickte.
    »Achten Sie auf die Lage, die Kleidung –«
    »Auf alles eben.«
    Kriminalkommissarin Nicole Schwattke war mit ihren fünfundzwanzig Jahren nicht nur die Jüngste, sondern auch die Flachländischste im Team. Recklinghausen lag genau fünfundachtzig Meter über dem Meeresspiegel, die höchsten Erhebungen waren die Jungs vom örtlichen Basketballclub. Nur Holland war noch flacher. Nicole ließ sich von Ostler fachmännisch einbinden und anseilen, dann schwebte sie hinunter. Sie blieb zwanzig Minuten lang. Als sie wieder hochkam, hatte die sonst so coole Nicole rote Bäckchen und leuchtende Augen, wie ein Kind beim Anblick der neuen Turbowasserrutsche im Freibad.
    »Wow! Ein Super-Tatort, das muss ich schon sagen. Der Anblick der Leiche war gruselig, aber das Abseilen – erste Sahne.«
    »Sie klettern ja gar nicht so schlecht!«, sagte Ostler anerkennend.
    »Ich bin ja auch schon zwei, drei Mal geklettert. Natürlich noch nie in einer Naturwand, aber im Klettergarten. In Datteln bei Recklinghausen habe ich bei der VHS einen alpinen Grundkurs mitgemacht – Basislehrgang mit anschließendem Kletterführerschein.«
    Polizeiobermeister Johann Ostler schüttelte den Kopf. Datteln.
     
    »Ich muss mir das nochmals genau auf den Fotos der Spurensicherung ansehen«, sagte Nicole, als sie wieder frei von allen Karabinern und Schlingen war. »Eines kann ich aber jetzt schon sagen: Irgendetwas stimmt da nicht. Irgendetwas ist sonderbar.«
    »Zum Beispiel?«, fragte Maria.
    »Die merkwürdige Bergkleidung. Das ist selbst mir als Flachlandtirolerin aufgefallen. Sieht man mal von den Schwarzweißfilmen aus den Fünfzigerjahren ab, habe ich noch keinen solchen unauffälligen, fast getarnten Bergsteiger gesehen. Heutzutage ist doch alles bunt. Der Anorak, den der trägt, war vor hundert Jahren modern.«
    »Vielleicht liegt er schon so lange da?«, warf Maria ein.
    Ostlers Telefon klingelte.
    »Die Bergwacht lässt fragen, ob sie die Leiche jetzt bergen und in die Gerichtsmedizin bringen können. Sie könnten mit dem Hubschrauber in einer halben Stunde hier sein.«
    »Ja, sie sollen losfliegen«, sagte Jennerwein. »Überflüssig zu erwähnen, dass sie mit äußerster Sorgfalt vorgehen sollen.«
    »Ja, klar.«
    »Und sie sollen den Körper möglichst in der sitzenden Haltung lassen, in der er sich jetzt befindet.«
    »Selbstverständlich.«
    »Besonders interessiert mich der Rucksack. Kein Stückchen darf daraus verloren gehen.«
    Ostler holte eine Thermosflasche mit Eistee aus seinem Rucksack, und das fast vollständige Team der Mordkommission IV schlürfte gierig aus den Pappbechern. Sie sahen sich um. Dort, in Richtung Reintal, bot sich ein eigenartig unwirkliches Bild. Ein riesiger Menschenauflauf hatte sich in einiger Entfernung hinter dem Polizeiabsperrband gebildet. Dutzende von Fotoapparaten blitzten los, und Jennerwein hob freundlich den Becher.
     
    »Schau dir den an! Das ist doch nie und nimmer ein Pfarrer. Der sieht doch aus
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