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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung
Autoren: Gisa Klönne
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oder acht, oder zwölf? Nicht einmal das kann sie messen, denn sie hat keine Uhr. Keine Uhr, kein Handy, keine Waffe, gar nichts. Vielleicht hat sie sich vorhin ja getäuscht. Vielleicht ist dieses Feuer viel näher, frisst sich zu ihnen durch, und dann werden sie hier alle verbrennen. Doch als sie vorhin draußen war, gab es über ihr nur die Sterne, unwirklich schön. Sie hält Leas Hände weiter fest, versucht sie zu beruhigen, sich selbst, versucht die Sekunden zu zählen, die Minuten, nachdem die Wehe abebbt, kommt erneut durcheinander.
    Schneider beobachtet sie und lächelt. Vielleicht sieht er also wieder seine Mutter in ihr. Oder seine Verlobte. Oder seine Kollegin. Auch solche Phasen hat es in den vergangenen Stunden gegeben, und die waren fast noch beklemmender. Schneider, der im Plauderton berichtet, wie er die Ermittlungen manipuliert hat. Schneider, der so tut, als seien sie und er noch immer Kollegen. Zwei Kollegen, die zusammen eine Sonderschicht fahren. Als sei das hier ihre gemeinsame Mission.
    Ihre Beine sind taub. In ihrem Kopf scheint sich alles zu drehen. Sie verändert ihre Sitzposition, merkt, dass sie zittert. Denk nach, Judith, denk nach. Wie kannst du ihn packen? Du musst zu ihm durchdringen, du musst das schaffen.
    »Komm, trink, das kann ja noch dauern.« Er reicht ihr seine Flasche rüber, die zweite inzwischen. Wein aus einer Plastikflasche. Er geht kein Risiko ein, gibt ihr keine Chance, eine Waffe in die Finger zu kriegen, und sei es auch nur eine Flasche aus Glas.
    Sie zögert, trinkt dann doch, die Säure beißt in ihrem Magen. Wenn sie noch mehr Wein trinkt, wird sie betrunken. Wenn sie nichts trinkt, wird sie bald einfach umkippen, ausgetrocknet, wie sie ist. Sie gibt Schneider die Flasche zurück, er betrachtet sie prüfend, nimmt dann selbst einen Schluck. Er trinkt mehr als sie, aber längst nicht genug, um die Kontrolle zu verlieren, und er sitzt neben der Tür, und er hat die Pistole.
    Sie hat so hart gekämpft, sie war schon so weit. Sie will nicht noch einmal hilflos mit ansehen müssen, wie jemand vor ihren Augen ermordet wird. Sie will nicht zurück in dieses Schattenreich. Aber sie hat keine Chance, auf einmal wird ihr das klar. Keine Kraft, keine Chance. In der Welt, in der Schneider jetzt ist, kann sie ihn nicht mehr erreichen. Sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten, sie helfen ja nichts, und er soll nicht sehen, dass sie Angst hat, wenigstens das nicht. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles verloren. Vielleicht sind schon längst Suchtrupps auf dem Weg zu ihnen. Millstätt und Manni haben sicher Alarm geschlagen, Maria Damianidi kennt die Insel. Vielleicht weiß doch jemand von Leas Nachbarn oder Freunden von dieser Kate.
    »Nicht weinen«, sagt Schneider, es klingt beinahe liebevoll, also sieht er wohl wieder seine Mutter in ihr.
    Seine Mutter oder seine Verlobte, um wen geht es hier? Was ist wahrscheinlicher? Sie müsste das abschätzen können, Einfühlung ist doch ihre Stärke. Die Psyche des Täters ausloten und seine Abgründe, sich beinahe darin verlieren. Aber das hat sie bereits getan, sie weiß, welche Last er mit sich herumträgt, doch es hilft ihr nicht weiter.
    Sie soll ihn erlösen, hat er gesagt, aber wie soll das gehen? Soll sie ihn verhaften? Töten? Ihm die Absolution erteilen, wenn er auch Lea und ihr Kind ermordet hat? Soll sie ihn wie eine gütige Übermama ans Herz drücken und ihm ins Ohr flüstern, ich verzeihe dir?
    Die Mutter ist wahrscheinlicher, so ist es doch immer. Die Mutter, die nie dem Ideal entspricht und nie alle Sehnsucht erfüllt, sie weiß das so gut. Sie hätte ihre Mutter noch anrufen sollen, trotz des Ermittlungsdrucks. Sie hätte ihr danken sollen, ihr sagen, dass ihr heute manches leidtut, dass sie manches versteht, irgend so was. Denk jetzt nicht dran, es geht um Schneider. Schneider und seine Mutter, die ihn ins Heim steckte und verschwunden ist. Oder geht es doch um Susanne, seine Verlobte? Etwas muss schiefgegangen sein mit ihr, sehr, sehr schief, wird Judith plötzlich klar. 1981 hat er Susanne kennengelernt und war glücklich, 1986 begann sein Rachefeldzug. Was ist in diesen fünf Jahren geschehen? Eine gescheiterte Ehe? Erneutes Verlassenwerden? Ein totes Kind? Soll Leas Baby deshalb sterben?
    Eine Chance, sie hat nur diese eine Chance. Wenn sie Lea retten will. Wenn sie nicht wieder alles verlieren will. Die Freude, die Freiheit, ihr Leben. Sie muss zu ihm durchdringen, ihn zum Aufgeben überreden. Sie darf sich
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