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Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)

Titel: Wie geht's, Deutschland?: Populisten. Profiteure. Patrioten. - Eine Bilanz der Einheit (German Edition)
Autoren: Michael Jürgs
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Prolog
    Die richtig guten Geschichten fangen klassisch an: »Es war einmal.« Unvollendete Geschichten enden mit der Aussage: »Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.«
    Es war einmal, am 9. November 1989, dass ein Wunder geschah und die Mauer brach. Da bei diesem Wunder kein Schuss fiel und niemand sein Leben verlor, leben die meisten Wundermacher noch heute. Fast zwanzig Jahre danach habe ich mich auf eine Reise begeben, um sie zu besuchen. Es gab viele Bahnhöfe, an denen ich bei dieser Deutschlandreise einstieg und ausstieg, und oft musste ich Schutt wegräumen, um Geschichten aus jenen Zeiten des Umbruchs und des Abbruchs und des Aufbruchs zu finden, die nicht längst schon in deutschen Geschichtsbüchern vergraben sind.
    Dies ist kein typisches deutsches Geschichtsbuch, sondern ein Buch voller Geschichten über Menschen, die das scheinbar unzerstörbar fest gemauerte System der SED in einer friedlichen Revolution besiegten. Über Menschen, die im geeinten Deutschland neu anfangen mussten, sich eine neue Biografie aufbauten, die tief stürzten oder hoch aufstiegen, die auf ihre Art versuchen, mit der Einheit zu leben. Ich fand fröhliche Gewinner und traurige Verlierer, wachsame Träumer und verbohrte Ewiggestrige, eingebildete Profiteure und gebildete Patrioten, in Bad Schmiedeberg oder in Kamp-Lintfort, in der Birthler-Behörde oder im Bundeskanzleramt, am Hamburger Elbufer oder im Berliner Admiralspalast, in der Zentralen DDR-Hinrichtungsstätte in Leipzig oder in der Psychiatrie von Zschadraß.
    Von manchen der Zeitzeugen, die ich befragte, wie sie die Nacht der Nächte am 9. November 1989 erlebt hätten und was aus ihnen seither geworden sei, bekam ich bei konspirativ anmutenden Treffen Dokumente oder gar Akten zugesteckt, und jene, die sie mir gaben, wollten auf keinen Fall, dass ich ihnen in meinem Buch dafür namentlich dankte. Auf vielen nächtlichen Zugfahrten durchs dunkle Deutschland – wobei zwischen Dunkeldeutschland Ost und West auf solchen Fahrten kein Unterschied sichtbar ist – schlief ich ein und träumte wirres Zeug: von schönen Frauen und einer blonden Prinzessin, die ihr Herz als Krone trug, von Straßenkötern, die auf fremden Sternen wohnten, und von Mousse au chocolat in kleinen Töpfen. Das alles scheint völlig verrückt, aber erklärbar ist es doch, denn es ist genau das Gegenteil dessen, was ich tagsüber erlebt hatte: graugesichtige Männer mit Brettern vor dem Kopf, vermiefte Plattenbauten, Sättigungsbeilagen.Treuester Reisebegleiter war übrigens, ganz irdisch, mein iPod, auf dem die Musik gespeichert war, die mich wieder wach machte. Neil Young und Mozart, Cat Power und Nora Jones, Bruce Springsteen und Brahms.
    Wie geht’s, Deutschland?
    Nostalgie wächst bei vielen im Osten, während viele im Westen verlangen, es müsse endlich Schluss sein mit dem teuren Aufbau Ost. Die Reise zur heutigen Lage der Nation war auch eine Reise zurück in jene wahnsinnige Zeit, als die Mauer fiel. Bei der Recherche fand ich nicht nur bislang Unbekanntes wie den ersten tatsächlich schriftlichen Schießbefehl, ich traf auch auf die unbekannten Eliten des Landes, die vor Ort im Alltag alles Mögliche und Unmögliche versuchen, um zu erfüllen, was die deutsche Nationalhymne verspricht – blühe, deutsches Vaterland.
    Einmal stieß ich dabei sogar auf mich selbst. Mein letzter Leitartikel als »Stern«-Chefredakteur hatte den Titel »Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?« – Fragezeichen, nicht Ausrufezeichen! -, und in dem steht neben Sätzen respektvoller Bewunderung für den Mut der mir damals fremden Deutschen auch der Satz, dass ein einig Vaterland in »meinen Träumen von den neunziger Jahren
keine Rolle spielt«. Vier Tage später, am 30. Januar 1990, wurde ich gefeuert. Womit bewiesen wäre: Auch mein Leben hat sich durch die Einheit geändert.
    Viele Erinnerungen, viele Einzelheiten, viele Farbtupfer ergeben zwar ein Bild im deutschen Rahmen, aber das bedeutet nicht, dass dieses Bild von Deutschland das einzig gültige ist. Man darf sich auch ein anderes malen. Es kommt auf die Perspektive an. Ein Journalist, der aufschreibt, was er sieht und wonach es riecht und wie es schmeckt, hat ein anderes Bild vom geeinten Deutschland als der Zeitgeschichtler, der sein Bild aus Akten komponiert. Ein Reporter, der Zeitzeugen der Revolution von 1989 nach Brüchen in ihren Biografien befragt, schildert den realen Zustand in einer Nussschale, die vielen Historikern und
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