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Nichts als Erlösung

Nichts als Erlösung

Titel: Nichts als Erlösung
Autoren: Gisa Klönne
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Minuten Fahrt wird der Qualm allmählich dünner, Olivenhaine kommen in Sicht, das Meer im Abendlicht. Ein lang gezogener weißer Sandstrand mit blauen Liegen und Schirmen, ein perfekter Urlaubstraum. Auch in Lea Wenzels Haus wirkt alles idyllisch. Nichts deutet auf ein Gewaltverbrechen hin, doch Judith Krieger war hier, ganz ohne Frage. Im Wohnzimmer liegt ihr Tagesrucksack mit Brieftasche und Handy. Auf dem Tisch liegen noch zwei weitere Handys, die Lea Wenzel und Schneider gehören. Manni nimmt sich den Rucksack der Krieger vor. Sie hat nicht viel eingesteckt, Zahnbürste, Sonnencreme, Wäsche zum Wechseln, ein paar Lederschlappen, ein Kleid und einen türkisfarbenen Bikini. In einer Seitentasche des Rucksacks stecken ein Lippenstift und ihre Armbanduhr.
    »Lea Wenzels Pferd ist verschwunden«, sagt Maria. »Ich habe mich deshalb heute Mittag schon einmal umgehört. Eine Kellnerin aus einer Strandbar hat gestern spätabends Hufgetrappel gehört.«
    »Aber nichts gesehen?«
    Sie schüttelt den Kopf.
    »Und sonst?«
    »Nichts.«
    Er geht in den hinteren Teil des Hauses. Auch hier ist alles ordentlich, auch hier deutet nichts auf ein Verbrechen hin. Hufgetrappel gestern Nacht. Vor annähernd 24 Stunden. Das ist tatsächlich nichts, gar nichts, das ist fast wie ein Hohn. Er betritt einen Raum, der offenbar als Arbeitszimmer dient, und entdeckt das Foto von Miriam und Jonas, von dem die Krieger berichtet hat. Zwei junge Menschen, die tot sind, ermordet von einem wahnsinnigen Bullen, der glaubt, seine Kindheit rechtfertige das, ja lasse ihm keine andere Wahl.
    Sein eigener Vater fällt ihm ein, seine eigene Geschichte. Sein Kind und die Tatsache, dass er Sonja noch immer nichts zu der Wohnung gesagt hat. Weil er Schiss hat, dass er so wird wie sein Alter, hat er immer gedacht. Aber das war wohl nur eine Ausrede. Bequemlichkeit. Feigheit. Weil es sein Leben ist. Seine Verantwortung. Seine Entscheidung. Weil das, was gewesen ist, zwar Spuren hinterlässt, aber trotzdem vorbei ist. Es sei denn, man hält es wie Schneider künstlich am Leben und weigert sich, in die Zukunft zu blicken.
    ***
    Sie hat keine Zeit, sie muss handeln, sofort, doch sie weiß nicht, wie. Draußen ist es inzwischen Nacht, wahrscheinlich schon seit Stunden. Neben ihr liegt Lea Wenzel in den Wehen. Wehen, die sie gar nicht haben dürfte, nicht jetzt, nicht hier, und schon gar nicht gefesselt, in der Gewalt des Mannes, der ihren Geliebten getötet hat und nun auch ihr Kind ermorden will. Sie braucht einen Arzt, sie müssen ins Krankenhaus. Es ist noch zu früh, das Kind liegt noch nicht richtig, hat Lea gesagt. Judith tastet nach Leas eiskalten Händen, fühlt, wie sie zittert. Inzwischen ist sie so erschöpft, dass sie nicht mehr schreit, wenn der Schmerz kommt, sondern nur noch wimmert. Wie lange hält sie noch durch? Wie lange kann ihr Kind so überleben? Ihr Kind, Jonas’ Kind. Zum Tode verurteilt noch vor seiner Geburt.
    Die Gaslampe auf dem Boden flackert. Schneider springt auf, die Pistole erhoben, öffnet die Tür einen Spalt und späht nach draußen, setzt sich dann wieder. Zweimal hat er ihnen je fünf Minuten Ausgang zum Pinkeln gewährt. Einzeln natürlich, damit sie ja nicht abhauen. Immerhin hat er Lea dazu ihre Fußfesseln abgenommen und ihre Beine danach nicht wieder zusammengeschnürt. Aber Lea ist inzwischen wohl kaum noch fähig, irgendwohin zu laufen, und sie selbst hält auch nicht mehr lange durch. Ihr Kopf fühlt sich leer an, schwindelig vor Hunger und Müdigkeit und Erschöpfung.
    Judith streckt die Beine aus, langsam, um Schneider nicht schon wieder zu provozieren. Sie muss handeln, jetzt, sie muss zu ihm durchdringen, ihn zum Aufgeben überreden, das ist die einzige Chance, die sie hat. Ein paarmal hat sie schon geglaubt, sie hätte das geschafft. Dann wieder hat sie das Gefühl, dass er nicht einmal selbst weiß, wen er eigentlich in ihr sieht. Einmal, als sie ihn nach seiner Verlobten fragte, hat er plötzlich geweint. Einmal, als sie nach dem Kinderheim fragte, hat er sie angesehen und Mutter geflüstert. Aber im nächsten Moment war er nur noch aggressiv, und als sie ihn endlich beruhigt hatte, fing er plötzlich an zu lachen und faselte wieder von Zeichen und Schicksal und davon, dass er doch alles für sie dokumentiert und aufgeschrieben habe, jedes Detail, die ganze Geschichte.
    Lea stöhnt auf und krümmt sich zusammen. Die Wehen sind stärker geworden und kommen in kürzeren Abständen. Alle zehn Minuten vielleicht,
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