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Neva: Tag der Befreiung

Neva: Tag der Befreiung

Titel: Neva: Tag der Befreiung
Autoren: Sara Grant
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Zahl. Die Anzahl der Leute, die im Terror getötet worden waren. Ruth betrachtete die Namen, die wie eine gigantische Wolke gegen die Protektosphäre projiziert wurden. Sie wusste, dass dort genau vierzehn Mal der Name Ruth stand, keiner jedoch mit ihrem Nachnamen. Das Klingen der Gedenkhalsketten um sie herum verstärkte ihr Gefühl, ausgeschlossen zu sein.
    »Kannst du ihn sehen?« Barbara wippte auf den Zehenspitzen. Sie überragte die meisten in der Menge um gut einen Kopf. Ihr rotes Haar strich um ihre Schultern und schien im hellen Licht der Sonne fast zu fließen.
    Ruth überblickte das Meer aus Grauschattierungen. Ihr Großvater hatte ihr gesagt, dass früher alle am Befreiungstag Schwarz getragen hatten, doch wie so vieles andere war auch die Farbe der Trauer zu einem nichtssagenden Grau verblasst. Sie beobachtete, wie verschiedene Leute die Augen verengten und die Stirn runzelten, und es dauerte eine Weile, bis sie begriff: Es lag an den Regenbogenfarben, die sie und ihre Freundinnen im Haar trugen.
    Nervös zupfte Ruth an einer Strähne. So gut wie alle starrten sie an. Aber das hatten sie ja zu erreichen versucht, nicht wahr? Sie wollten nicht in der breiten Masse verschwinden. Tja, die Idee hatte sich großartig angehört. Aber nun war Ruth nicht mehr so sicher.
    Dann entdeckte sie Ben und ein paar andere Jungs aus ihrer Schule. Sie deuteten auf sie und lachten. Er legte seine Hände an die Mundwinkel und rief zu ihr herüber: »Schicke Haarfarbe, Missgeburt.«
    Sie packte Barbaras Arm und zog sie herunter, so dass sie in der Menge verschwand. Vielleicht hatte sie die Jungs noch nicht gesehen. »Komm mit«, sagte Ruth.
    »Hat da nicht gerade jemand gerufen?«, fragte Barbara.
    »Nein«, log Ruth. »Versuchen wir, ob wir näher an die Bühne herankommen.« Sie griff nach Barbaras Hand und stieß Lucy und Patty an.
    »Hey, ich habe gehört, dass der Typ, der das Lied der Opfer singt, heiß sein soll«, sagte Lucy und hakte sich bei Ruth ein.
    »Ist das nicht totaler Frevel?«, fragte Patty und drängte sich hinter ihren Freundinnen durch die Menge.
    Die Mädchen schoben sich hintereinander durch die Zuschauer auf die Bühne zu. Man hatte sie um den Berg aus Schutt errichtet, der einst der Capitol-Komplex gewesen war. Vielleicht bildete Ruth es sich nur ein, aber ihr war, als würde die Menge sich teilen, um sie durchzulassen.
    »Völlig unangemessen«, hörte Ruth jemanden so laut flüstern, dass es garantiert jeder mitbekam.
    Während die Mädchen sich nach vorne durchkämpften, verschwammen die Gesichter um Ruth herum. Sie sah keine Individuen mehr, sondern nur noch ein gigantisches Meer der Gleichförmigkeit, und Ruth wurde beinahe seekrank im Wogen der Menschen, die um die besten Plätze rangen. Die Masse um sie herum schien zu trägen Wellen zu werden, die sie in die Tiefe zu ziehen drohten. Sie schwankte, als fremde Körper sie zwischen ihre Freundinnen pressten.
    »Hier ist es gut«, sagte Ruth, als sie vielleicht noch drei Meter von der Bühne entfernt waren. Die Mädchen drängten sich zusammen.
    »Oh, ist er das?« Lucy stieß ihren Freundinnen den Ellenbogen in die Rippen und deutete mit dem Kopf auf einen Jungen, der etwa in ihrem Alter war und nun die Bühne betrat. Er war der attraktivste Bursche, den Ruth je gesehen hatte. Er trug ein graumeliertes T-Shirt, das seine Muskeln betonte, und enge Hosen, die fast so schwarz waren wie die einer Polizeiuniform. An der silbernen Kette um seinen Hals hingen bestimmt fast tausend blattförmige Anhänger, und das braune Haar war zu einer Seite gekämmt und verdeckte fast das rechte Auge.
    »Ich glaube, er heißt John«, sagte Patty, deren Blick an dem Jungen klebte. »Beide Elternteile sind direkte Nachkommen der Gründungsväter. Meine Mutter meint, es würde allgemein erwartet, dass er für das Parlament kandidiert.«
    »Also, ich würde ihn wählen.« Lucy schob sich näher an die Bühne heran und strich sich über das Haar. Sie hatte es glatt nach hinten gekämmt, so dass die Farbe nun eher gelbgrün wirkte, statt schmutzig gelbbraun, wie es anfangs gewesen war.
    Barbara hakte ihren Finger in die Gedenkkette. Ihre elf Silberblättchen stießen leise klingend gegeneinander. In jedes Blatt war der Name eines Vorfahren eingraviert, der im Terror gestorben war. Versonnen nahm sie ein paar Kettenglieder in den Mund und betrachtete den Jungen auf der Bühne durch ihre langen, zusammengeklebten Wimpern. Lucys Gesicht erstrahlte in einem Lächeln, das zu
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