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Neva: Tag der Befreiung

Neva: Tag der Befreiung

Titel: Neva: Tag der Befreiung
Autoren: Sara Grant
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groß für ihre Züge wirkte und nicht abzuschalten war.
    Die Menge schob sich automatisch nach vorne, als der regierende Rat die Bühne betrat, und nahm die Mädchen mit. Ruth trat in eins der vielen Schlaglöcher und stolperte, doch ihre Freundinnen waren zu gebannt von dem gutaussehenden Jungen, um es zu bemerken. Trotz des Gedränges fiel sie auf Knie und Hände, und augenblicklich schloss sich die Menge wieder um sie. Ihre Finger tasteten über den Kalkstein. Die Explosion damals hatte tiefe Narben hinterlassen, die nur notdürftig geflickt worden waren, und Ruth musste unwillkürlich daran denken, wie seltsam das Leben sein konnte: Gerade war alles noch normal, dann machte es Bumm!, und nichts würde je wieder sein wie zuvor.
    Plötzlich griff eine Hand nach ihr. Aus Reflex hätte sie sie fast weggeschlagen, aber der Wald der Beine um sie herum begann ihr Angst zu machen. Also packte sie die ausgestreckte Hand und kämpfte sich auf die Füße. In Augenhöhe funkelten zwei Ketten voller Anhänger. Es klirrte wie eine Hosentasche voll Kleingeld, in die gierige Finger griffen.
    »Alles okay mit dir?«, sagten die Halsketten mit der Stimme eines Jungen. Ruth konnte den Blick nicht von den vielen Anhängern lösen. Wie anders alles wäre, wenn sie nur einen einzigen davon hätte. Einen mickrigen Verwandten würde er ja wohl kaum vermissen.
    »Alles okay mit dir?«, wiederholte die Stimme. Nun senkte Ruth den Blick auf seine polierten braunen Schuhe, ließ sie seine gebügelte Hose aufwärtswandern und musterte das weiße Hemd. Sein Haar war kurz und wellig. Er war einen Kopf größer als sie und wahrscheinlich ein paar Jahre älter. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen.
    »Ähm, ja, alles klar, danke«, sagte sie, doch in diesem Moment schob sich die Menge wieder vorwärts, und der Junge legte ihr einen starken Arm um die Schulter, um sie festzuhalten, damit sie nicht wieder stürzte. Ein weiterer Schub und sie fand sich plötzlich Brust an Brust mit ihm wieder. Sie betrachtete seine Lippen, dann sah sie zu ihm auf. Er blickte direkt in ihre Augen. Ihre Gesichter näherten sich einander. Sie hatte plötzlich das übermächtige Bedürfnis, ihn zu küssen. Überrascht von dem Impuls und gleichzeitig peinlich berührt, fuhr sie zurück. Aber da war etwas … Sie hätte es nicht benennen können. Der Junge hatte etwas Besonderes. Ja, natürlich, er hatte sie davor gerettet, zertrampelt zu werden. Und wenn man aus der Anzahl der Anhänger und seiner neuwertigen Kleidung schließen konnte, gehörte er zu einer privilegierten Schicht, doch er hatte angehalten, um dem Mädchen mit den lila Haaren zu helfen. Und dann war da noch die Art, wie er sie ansah … als sei sie nicht einfach nur Durchschnitt.
    »Tja, dann, ähm, danke fürs Aufhelfen«, sagte Ruth. Hastig drängte sie sich durch die Menge, rettete sich zu ihren Freundinnen und duckte sich hinter Barbara.
    »He, was machst du denn da?«, fragte Patty, als Ruth sie und Barbara zueinanderzog, so dass die zwei Schulter an Schulter standen und eine menschliche Barriere zwischen ihr und dem Jungen bildeten.
    »Guckt der Kerl noch immer rüber?«, fragte Ruth. Sie wagte nicht, den Kopf wieder zu heben.
    Das schien Barbaras Interesse zu wecken. »Welcher Kerl?«
    »Der mit den vielen Ketten.« Ruth spähte über Pattys Schulter, aber Mister Geheimnisvoll war verschwunden. Das Seufzen blieb ihr in der Kehle stecken. »Oh, niemand, schon gut«, murmelte sie, aber die Enttäuschung nagte an ihr.
    »Hey, es geht los«, sagte Lucy und klatschte aufgeregt in die Hände, woraufhin andere einstimmten. Sie warf einen Blick auf die Namen, die auf ihren fünfzehn Blattanhängern eingraviert waren. »Oh, Mann, wie soll ich mir bloß all die Namen merken?« Ihr Lächeln verblasste, als ihr bewusst wurde, was sie gesagt hatte. »Entschuldige«, flüsterte sie Ruth zu.
    Ruth machte eine wegwerfende Geste, als sei nichts, doch wieder spürte sie den Makel ihrer minderwertigen Abstammung.
    Ein alter Mann in einem verknitterten grauen Anzug trat an ein Mikrophon am anderen Ende der Bühne. Sein Räuspern klang über die Anlage wie ein Donnergrollen. Ruth erkannte ihn. Er war Minister für Altgeschichte. Einen langweiligeren Job hätte sie sich nicht vorstellen können. Was mochte bloß reizvoll daran sein, sich gedanklich mit der Vergangenheit zu beschäftigen?
    »Wir haben uns heute hier versammelt, um jenen zu gedenken, die ihr Leben für unsere Freiheit opferten, und auch, um
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