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Neva: Tag der Befreiung

Neva: Tag der Befreiung

Titel: Neva: Tag der Befreiung
Autoren: Sara Grant
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verloren. Und sie sah sich ganz allein mit dem Stift in der Hand in einem Häuschen am Meer, wo sie die Geschichten aufschrieb, die ihr Großvater ihr erzählt hatte. Verrückte Geschichten von einem Leben ohne durchsichtigen Himmel. Sie hielt sie für Erfindung und sollte erst sehr viel später erkennen, dass ihr Großvater ihr ein Erbe der Wahrheit hinterlassen hatte.
    Ruth zwang ihre Gedanken in das Hier und Jetzt zurück, auf diesen Augenblick mit ihren besten Freundinnen. »Leute, ich kann’s kaum noch erwarten«, sagte sie und versuchte, so viel Enthusiasmus aufzubringen wie möglich. Doch sie spürte selbst, dass ihr kleiner Akt der Rebellion seinen Glanz verloren hatte.
    »Ja! Der Augenblick der Wahrheit.« Lucy rieb sich vergnügt die Hände.
    »Eins!«, rief Ruth und rupfte Barbara das Handtuch vom Kopf. Das einst mausbraune Haar glänzte nun leuchtend rot und wallte einen Moment lang in der Luft wie eine Flamme, um anschließend feucht und dunkel um ihre Schultern zum Liegen zu kommen.
    »Zwei.« Ruth zog das Handtuch von Pattys Kopf und enthüllte einen knallig orangefarbenen Bob, der wie eine ovale Sonne um ihren Kopf lag.
    »Drei!« Als Nächstes kam Lucy dran, und Ruth schnappte nach Luft. Auf der Flasche mit dem Haarfärbemittel hatte »Frühlingsgras« gestanden, doch statt grün sah das Haar ihrer Freundin schlammig gelb aus und erinnerte sie an das, was ihr kleiner Bruder manchmal in der Windel hatte. Sie musste sich das Lachen verbeißen.
    »Was?«, jammerte Lucy, als sie die verdatterten Mienen ihrer Freundinnen richtig deutete. »Was?«, fragte sie wieder. Sie fuhr zum Spiegel herum und schrie.
    »Ruth Laverne!« Die Stimme ihrer Mutter drang durch die Bodendielen von unten herauf. »Was macht ihr da oben?«
    »Nichts, Mom«, antwortete sie, bevor das Kichern sich nicht mehr unterdrücken ließ.
    »Das ist nicht komisch«, fauchte Lucy und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. »Ich sehe aus wie …«
    »Eine faulige Banane«, beendete Barbara den Satz, und ihr breites Grinsen verengte ihre Augen zu Schlitzen.
    »Schimmeliger Käse«, wisperte Patty gepresst, um nicht in lautes Gelächter auszubrechen.
    »Hört auf, Mädels«, sagte Ruth und schob die beiden anderen zur Seite. Sie nahm ihre Bürste vom Waschbecken und begann, Lucys Haar zu striegeln. »Es wird einen tollen Grünton haben, wenn es erst trocken ist.«
    Lucy schlug die Bürste weg. » Damit werde ich garantiert auffallen.«
    Ruth erkannte, dass Lucy den Tränen nah war. »Komm, Luce, alles wird gut. Es ist doch bloß für ein, zwei Tage. Der Kerl, von dem ich das Zeug gekauft habe, hat versprochen, dass es sich schnell wieder auswäscht.«
    »Dann wasche ich es jetzt aus.« Lucy schob den Duschvorhang zurück.
    »Nein, tu das nicht«, sagte Ruth und löste den Duschvorhang wieder aus ihrer Hand. »Komm schon. Es wird toll. Stell dir vor, wie dumm alle gucken werden, wenn sie uns am Befreiungstag sehen.«
    »Und du bist sicher, dass wir keinen Ärger kriegen?«, fragte Barbara, während sie ihre roten Locken bewunderte.
    »Es gibt noch kein Gesetz, das Haarefärben verbietet«, bemerkte Patty.
    »Los, Ruth, wir wollen deine sehen.« Lucy zog ihr das Handtuch vom Kopf, und nun war sie es, die nach Luft schnappte. Ruths Haare leuchteten unfassbar lila.
    Ruth starrte in den Spiegel. Ihr Haar war kurz und sah normalerweise immer aus, als käme sie gerade aus dem Bett. Sie zupfte an ein paar Strähnchen hier, drehte ein paar da. Es fühlte sich strohig an, die Enden gespalten, fast schon verbrannt. »Vielleicht lasse ich es jetzt immer so.« Sie neigte den Kopf hierhin und dorthin.
    Alle Mädchen drängten sich nun vor dem Spiegel. Die Kopfhaut am Haaransatz war ebenfalls eingefärbt, so dass sie aussahen wie gemalte Portraits, die man im Regen hatte stehen lassen.
    Ruth schlang die Arme um ihre Freundinnen und zog sie näher an sich, so dass sich ihre Gesichter aneinanderschmiegten. Jetzt hätte Ruth sich gewünscht, dass die Kamera ihres Großvaters noch funktionierte. Aber so musste sie sich diesen Augenblick ins Gedächtnis einbrennen. Viele Jahre später würde sie sich daran erinnern und lächeln … und nicht nur über den Anblick ihrer knallbunten Köpfe, sondern auch über die Hoffnung in ihren Augen. Ihre naiven Träume. Dies war ein inniger Augenblick, den die Regierung nicht ändern oder auslöschen konnte, dem nicht einmal die Jahre ihren Glanz nehmen würden.
    Dreitausendvierhundertsiebenundzwanzig. Jeder kannte diese
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