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Wild und gefaehrlich

Wild und gefaehrlich

Titel: Wild und gefaehrlich
Autoren: Cecily von Ziegesar
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1 Waverly-Eulen küssen nicht in der Öffentlichkeit
    Kalter, grauer Regen schlug gegen die riesigen Fensterscheiben des Zeichensaals. Jenny Humphrey saß vor einem großen Bogen Skizzenpapier und blickte verträumt nach draußen. Im strömenden Regen auf dem Rasen sah sie die Liebesszene aus Match Point vor sich, in der Jonathan Rhys Meyers das Gesicht von Scarlett Johansson mit leidenschaftlichen Küssen geradezu verschlingt. Wäre es nach Jenny gegangen, dann wäre es natürlich Easy Walsh gewesen, der heiße Elftklässler der Waverly-Akademie, der sie mit leidenschaftlichen Küssen verschlang. (Und wie in dem Film wäre es ein Sommertag auf dem Land in England, nicht so ein eiskalter Herbsttag im ländlichen Umkreis von New York.) Der heiße Easy Walsh – der zufälligerweise ihr fester Freund war.
    Letzte Woche hatte Mrs Silver, die kraushaarige Zeichenlehrerin, Jenny, Easy und Alison Quentin eingeladen, an dem Sonderkurs Anatomisches Zeichnen teilzunehmen, der mittwochs stattfand. Mit Stolz in der Stimme und einem Leuchten in den von knittrigen Fältchen umgebenen Augen hatte sie alle drei beiseitegenommen und gesagt: »Ihr seid meine Besten!« Und dann hatte sie argumentiert, der Kurs würde ihnen helfen, den menschlichen Körper besser zu begreifen und ihr bereits beachtliches Zeichentalent zu verbessern. Jenny fühlte sich wahnsinnig geschmeichelt, nach so wenigen Wochen auf der Waverly-Akademie schon gesagt zu bekommen, dass man sie für talentiert hielt. Und die Vorstellung, etwas häufiger mit Easy zusammen zu sein, störte ja auch nicht gerade.
    Nach der Mittagspause traf Jenny im Zeichensaal ein, in dessen Zentrum sich ein großes, ungefähr dreißig Zentimeter erhöhtes Podium befand, auf dem ein einziger Stuhl stand. Die Tische waren im Halbkreis um das Podium aufgestellt und Jenny nahm einen Platz in der Nähe der Tür in Beschlag. Sie ließ den Blick durch den Saal gleiten, in der Hoffnung, den anbetungswürdigen dunkelbraunen Lockenkopf von Easy zu entdecken, und stieß auf ein paar bekannte Gesichter: Parker DuBois, den Zwölftklässler aus Frankreich (oder war es Belgien?), über den die Mädchen ständig tuschelten; ein großes Mädchen aus Indien, das bei ihr im Feldhockey-Team war; ein Mädchen, das Brett und sie immer »das Mädchen in Schwarz« nannten. Schließlich entdeckte sie Easy ganz hinten bei den Schränken mit den Malutensilien. Er hatte sie beobachtet, während sie den Blick hatte herumgleiten lassen, und als er ihr jetzt leicht zuwinkte, flatterte ihr Herz noch heftiger als ohnehin schon.
    Wenn Jenny nicht gerade in romantischen Tagträumen versank, fand sie die Zeichenstunde ausgesprochen mitreißend. Alle fünf Minuten bat Mrs Silver einen anderen Schüler auf das Podium und ließ ihn nach ihren Anweisungen posieren. Angekleidet, verstand sich, sodass keine Peinlichkeiten aufkamen. Und trotzdem war Jenny die Vorstellung unangenehm, dass die ganze Klasse ihre überdimensionalen Brüste zeichnen würde. Zum Glück wurde sie nicht aufgerufen. Easy hingegen schon. Mrs Silver forderte ihn auf, sich auf den Stuhl zu setzen und seine Schuhe zu binden, und Jenny stellte sich vor, wie viel inspirierter und leidenschaftlicher ihre Zeichnung würde, wenn Easy sein Hemd auszöge. Vor Unterrichtsschluss ging Mrs Silver durch die Klasse und wählte die besten Skizzen des Tages aus (die von Easy, von Parker und dem Mädchen in Schwarz). Sie sollten am Freitag in der Schülergalerie ausgestellt werden. Nicht ganz zufällig begann just da das Wochenendtreffen der Treuhänder von Waverly.
    Als die Schüler schließlich entlassen wurden, war es draußen noch stürmischer geworden. Es sah nach einem regelrechten Monsunregen aus. Jenny grinste. Wie gut, dass sie ihre Jeffrey-Campbell-Gummistiefel trug, die mit dem knalligen bunten Blumenmuster, echt süß, aber auch echt praktisch. Vor Kurzem, an einem regnerischen Nachmittag, an dem sie in der Waverly-Bibliothek Zeitschriften durchgeblättert hatte (statt lateinische Verben zu konjugieren), hatte sie in Real Simple gelesen, dass es die Stimmung aufhellte, an trüben, nassen Tagen etwas leuchtend Buntes zu tragen. Jenny hatte sich den Rat zu Herzen genommen und ihn als Ausrede benutzt, sich die Gummistiefel und einen schicken roten Vinyl-Regenmantel von Bennetton zu gönnen, auf den sie in einem Internetshop gestoßen war. Er hatte Kindergröße und war ihr etwas eng um die Brust, aber wenn sie ihn trug, hatte sie das Gefühl, zu lächeln.
    Jenny
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