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Neva: Tag der Befreiung

Neva: Tag der Befreiung

Titel: Neva: Tag der Befreiung
Autoren: Sara Grant
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Heimatland zu feiern«, begann der Minister. »Vernichtung drohte unserem glorreichen Land. Die Terroristen, die unter uns lebten, zerstörten den Capitol-Komplex und ermordeten …« Er hielt inne, damit alle gemeinsam die Zahl nennen konnten: »… dreitausendvierhundertsiebenundzwanzig Menschen.«
    »Dieses eingestürzte Gebäude«, fuhr der Minister fort, »wurde unberührt gelassen, damit es uns stets an die Zerstörung erinnert, die Disharmonie und Verschiedenartigkeit verursacht haben. Heute feiern wir den Jahrestag der Versiegelung unserer Protektosphäre. Den Tag, an dem wir von äußeren Einflüssen befreit und vor Zersetzung durch bestimmte Faktoren bewahrt wurden. Den Tag, an dem wir unsere gewählte Existenz für die Zukunft konservieren konnten.«
    Alle blickten zum Himmel, als wollten sie sich vergewissern, dass der Schutzschild noch existierte, sie einschloss und beschützte. Und während der Minister die allgemein bekannten Daten ihrer Geschichte verlas und auf die Namen verwies, die über ihre Köpfe projiziert wurden – als ob sie je vergessen konnten! -, betrachtete Ruth ihre Freundinnen, die zusammenstanden und mit hochgerecktem Kinn gen Himmel blickten. Ob sie sich manchmal auch so eingesperrt fühlten wie sie?
    Die Stimme des Ministers schlich sich zurück in Ruths Bewusstsein. »Und nun singt John Michael Lee für uns das Lied der Opfer .«
    John trat ans Mikrophon. Ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er warf sich mit einer Kopfbewegung das Haar aus dem Gesicht. Barbara und Lucy rückten unwillkürlich näher, als zöge eine unsichtbare Macht sie an. Musik ertönte. Früher hatte das Nationalorchester das Lied der Opfer eingespielt, nun kam die leise, traurige Melodie vom Band. Als John Michael Lee zu singen begann, leuchtete jeder Name einzeln an der Protektosphäre auf. Das Lied bestand nicht einfach aus Strophen und einem Refrain, der wieder und wieder gesungen wurde, sondern war ein vierundneunzig Minuten langes Epos. John musste den richtigen Atemrhythmus geübt und genau einstudiert haben, wann er von dem Wasser trinken konnte, das man ihm ans Mikrophon gestellt hatte. Es war eine Ehre, für das Lied ausgewählt zu werden, aber es musste schwer sein, sich die Namen in der richtigen Reihenfolge zu merken und immer in der richtigen Tonhöhe zu bleiben.
    Johns Stimme war tief und vibrierte in Ruths Brustkasten, als würde jemand daran rütteln. Sein Blick ging nicht zum Himmel, während er sang, sondern war auf ihre Freundinnen fixiert. Bei jedem Namen ertönte das leise Klirren der Anhänger, als der jeweilige Nachfahre seine Kette zum Gruß anhob und von den umstehenden Zuschauern beglückwünscht wurde.
    Während John weitersang, betrat ein weiterer Minister die Bühne, um seinen Sermon herunterzubeten, und Ruth dachte nicht zum ersten Mal, dass die Feier der Regierung vermutlich hauptsächlich dazu diente, ihr Evangelium zu verbreiten. Dieser Teil der Zeremonie war eher chaotisch denn schön: Das Lied der Opfer wurde im Hintergrund fortgesetzt, während die Minister von Fortschritten erzählten und die Bevölkerung ermahnten, auch persönliche Opfer zu bringen, um Heimatland zu erhalten.
    Die Reden zogen sich endlos hin. Ruth schaltete ab. Patty hatte konzentriert die Augen verengt und schien den Rednern auf der Bühne zuzuhören. Barbara und Lucy starrten John an und stießen sich gegenseitig kichernd die Ellenbogen in die Rippen, aber auch sie mussten zuhören, um im richtigen Moment mit ihren Ketten zu rasseln. Plötzlich ertappte Ruth sich dabei, dass sie ihren Blick über die Menge schweifen ließ und nach ihrem Retter von eben suchte. Warum hatte sie bloß so dumm reagiert? Und warum hielt sie nun nach ihm Ausschau?
    Jedes silbrige Klingen um sie herum verstärkte Ruths Gefühl der Einsamkeit. Patty bedachte sie mit einem Blick voller solidarischem Mitgefühl, aber Patty besaß wenigstens ein Silberblatt. Und als der Name ihres Vorfahren gesungen wurde, hob Patty stumm und stolz die Kette.
    »Wir treffen uns nachher am Marktplatz«, sagte Patty, während sie sich in Bewegung setzte. Wenn der Name eines Vorfahren aufgerufen wurde, drängte man sich nach vorne zur Bühne, wo man für jedes Opfer der Familie ein weißes Rosenblütenblatt erhielt. Danach durfte man auf den Schutthaufen klettern und sich einen sicheren Ort zum Stehen suchen.
    Bald war der Berg aus Trümmersteinen mit Menschen gesprenkelt, die sich, wie es Ruth erschien, über dem niederen Volk
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