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Neue Zeit und Welt

Neue Zeit und Welt

Titel: Neue Zeit und Welt
Autoren: James Kahn
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den Kopf und spannte alle Sinne an – denn der Junge hatte recht; irgend etwas stimmte hier nicht.
    Die Strömung war schnell, aber ohne Schäumen oder Brodeln. Über ihren Köpfen funkelte der Herkules-Sternhaufen wie eine Tiara.
    Ollie stieß sie an.
    »Was ist das?« fragte er und zeigte mit dem Finger. Sie folgte der Richtung zum Ufer. Dort schienen in der Nähe des dunklen Randes, tief unter der Flussoberfläche, winzige orangerote Lichtfünkchen zu schimmern und zu tanzen. Jasmine starrte mit zusammengekniffenen Augen in die fließende Schwärze und versuchte die Bewegung der Lichtpunkte zu verfolgen, als ohne jede Vorwarnung das ganze Boot in die kalte Strömung hinabgerissen wurde.
    Jasmine und Ollie wirbelten im Strudel durcheinander, vor Verblüffung nach Luft ringend, viele Sekunden lang in Todesangst, auf der Suche nach der Oberfläche, nach Luft. Plötzlich kam es ihnen vor, als stürzten sie hinab, wie über Fälle – fünfzehn Meter, sechzig Meter, sie konnten es nicht sagen. Ebenso plötzlich hörte der Sturz wieder auf, und sie schwammen prustend an der Oberfläche eines stillen Teichs und wurden im nächsten Augenblick von einem Dutzend Händen an Land gezogen.
    Jasmine öffnete die Augen und sah sich neben einem kleinen See auf moosbedecktem Boden sitzen. Neben ihr hustete und würgte Ollie. Und als ihr Blick klar wurde, sah sie, dass sie umringt waren von Hunderten von Wesen aus drei verschiedenen Arten: Menschen, Einhörner und dicke, flügellose Vögel einer Gattung, die sie nicht kannte, in leuchtenden Farben.
    Einer der Menschen trat vor.
    »Ich bin Symeau«, sagte er sanft und streckte ihr die Hand hin. »Wir sind die Bewohner des Sees. Willkommen.«
    Jasmine ergriff seine Hand und zog sich hoch. Ollie schwankte ein bisschen, dann stand er neben ihr.
    »Ich bin Jasmine«, erwiderte die Neurofrau und entblößte ihren Hals. »Das ist mein Freund Ollie.«
    »Was ist mit uns geschehen?« fragte Ollie, der immer noch nach Luft rang. »Wo sind wir?«
    »Das ist der See. Wir sind seine Kinder«, sagte Symeau und wies auf das stille Wasser, an dessen Ufer sie standen, und auf die Schar der Tiere, die sie anstarrten.
    Jasmine ließ den Blick langsam in die Runde gehen, um ihre Umgebung besser zu erfassen. Sie befanden sich an einer Stelle, die eine riesige Lichtung im Wald zu sein schien – an die hundert Meter breit und doppelt so tief. An ihrem Rand lag der stille See, nur halb so groß wie die Lichtung und fast völlig von den Trompetenbaumblättern bedeckt, die darauf schwammen – herabgefallen von den riesigen Bäumen, die das Ganze völlig einschlossen. Auf der Wiese knisterten zahlreiche Lagerfeuer in der kühlen Nachtluft und sprühten Funken.
    Die Menschen, die sich um sie drängten, waren hochgewachsen, mager und zumeist nackt. Jasmine hatte im Lichtschein der flackernden Feuer keine Gewissheit, aber sie schienen überdies Albinos zu sein. Die Einhörner hatten rötliche Behaarung und waren sehr klein, bis zum Rücken nicht höher als sechzig Zentimeter. Manchen schien das Horn zu fehlen. Ein paar von ihnen kauten Farn, andere fuhren mit den Zungen über eine Salzlecke am Rand der Lichtung. Schließlich sah Jasmine sich die dicken, kleinen Vögel an, die im Gras herumwatschelten. Sie waren ungefähr entengroß und hatten Beutel unter den Schnäbeln wie Pelikane; ihre Federn von leuchtendem Rot, Grün und Blau waren in alle Richtungen aufgeplustert. Viele von den Menschen trugen solche Federn auch als Schmuck – in den Haaren oder um den Hals.
    Jasmine nahm das alles vergleichsweise schnell in sich auf, während Ollie sich auf ähnliche Weise orientierte. Schließlich sprach sie Symeau an.
    »Aber wie sind wir hergekommen? Wir sind vorhin noch auf dem Fluss dahingeschwommen.«
    »Hier ist der See«, sagte Symeau lächelnd und wies mit der Hand hinab auf das stille Wasser. »Und dort ist der Fluss«, fuhr er fort und zeigte nach oben.
    Jasmine und Ollie blickten hinauf zu der Stelle, wo Symeau hinzeigte, und was sie sahen, ließ Jasmine den Atem stocken – etwas, das ihr seit zweihundert Jahren nicht mehr widerfahren war. Selbst Ollie, der sich für einen durch nichts zu verblüffenden Menschen hielt, war vorübergehend sprachlos. Denn über den Baumwipfeln, hundert Meter hoch, strömte der Fluss.
    Zumindest sah das aus wie ein Fluss. Es schien durchsichtig klares, fließendes Wasser zu sein, zehn Meter in der Breite, unmittelbar über dem See durch die Luft in Bewegung. Jasmine glaubte
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