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Neue Zeit und Welt

Neue Zeit und Welt

Titel: Neue Zeit und Welt
Autoren: James Kahn
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weiter.
    »Hier ist Kreischerbraten«, sagte er, nahm sich selbst ein Stück und verteilte den Rest.
    Sie aßen alle. Ollie schmeckte das Fleisch sehr gut; es war zart und saftig. Jasmine aß ihren Anteil auf und ergriff wieder das Wort.
    »Danke, Symeau«, sagte sie. »Das war sehr gut. Ich habe vorher noch nie Kreischer gegessen. Aber jetzt müssen wir fort. Kannst du uns den Weg zeigen?«
    Ollie musste Jasmine bewundern. Das war eine direkte Rede und entsprach gleichzeitig doch den Bräuchen dieser Leute; sie betonte die Worte sogar ähnlich wie Symeau. Ollie selbst äußerte sich stets auch direkt, aber oft ohne Taktgefühl oder Feinheit. Die Einhörner dösten. Bei zweien war das Horn unbeschädigt, das dritte besaß nur noch einen Stummel.
    Als Symeau mit dem Essen fertig war, sagte er: »Kommt. Vieileau ist bereit. Der See wird durch sie sprechen.«
    Sie standen alle auf, gingen durch Farnkraut und betraten eine kleine Hütte aus Trompetenbaumstämmen.
    In der Herdmitte brannte Holzkohle in einer Vertiefung. Im burgunderroten Widerschein sah Jasmine eine alte Frau mit gekreuzten Beinen auf dem gestampften Boden sitzen. Das Licht der roten Glut spiegelte sich auf dem Gesicht der alten Frau und zeichnete ihre Züge schattenhaft nach – die Furchen der Zeit. Sie trug ein Gewand aus Federn; auf ihrer Schulter saß eine Eule.
    »Das ist Vieileau«, sagte Desireau stolz. »Durch sie hat der See uns aufgefordert, auf euren Schatten zu achten.«
    Jasmine sprach die alte Frau direkt an.
    »Vieileau, wir haben uns verirrt. Bitte, hilf uns, nach Hause zu kommen.«
    Ollie war mit seiner Geduld fast am Ende. Er suchte seinen vermissten Bruder, und mit jeder Minute, die er hier unten verbrachte, entfernte sich Josh immer weiter. Aber da er sich noch immer nicht darüber im klaren war, was er hier vor sich hatte, hielt er den Mund und blieb wachsam.
    »Hier ist der See«, sagte Vieileau mit brüchiger Stimme, »und hier sind seine Bewohner. Wir leben im Glanz des Sees, um seine Wunder auszuführen.«
    Auf beiden Seiten der alten Frau schwelten Schalen voller Weihrauch, und der Rauch stieg in dicken Schwaden auf, verschwommenen Träumen gleich.
    »Wir möchten jetzt gehen«, sagte Ollie. Er empfand keine Feindseligkeit, hatte aber auch keine Angst davor, sich den Weg freizukämpfen, sollte das nötig sein.
    »Der See ist Leben und Tod, uns soll nichts fehlen«, sagte die alte Frau. Plötzlich verdrehten sich ihre Augen nach oben, so dass man nur noch das Weiße sah. Als sie weitersprach, klang ihre Stimme flüsternd, wie plätscherndes Wasser am Ufer.
    »Ich bin der See«, wisperte sie. »Ihr seid in eurer Not zu mir gekommen.« Das sagte sie zu Ollie. »Ich habe euer Kommen durch meinen Bruder, den Fluss, gespürt, und er hat euch zu mir gebracht. Heute Nacht werdet ihr die Zeremonie verfolgen, wenn das Auge des Stromes uns ganz erfasst. Ihr werdet zusehen, damit ihr lernt, wie ihr euch zu verhalten habt, sobald ihr an der Reihe seid, wenn das Auge des Stroms beim nächstenmal ganz geöffnet ist.«
    »Nein, so lange können wir leider nicht bleiben …« begann Jasmine, aber die alte Frau hob die Hand, um die Neurofrau zum Schweigen zu bringen.
    »Kommt. Das Auge des Stroms blickt auf mein Gesicht. Zeigt dem Auge das Festmahl.«
    Vieileau stand auf und ging hinaus, obwohl ihre Augen weiterhin in ihren Schädel hineinstarrten. Sie ging zum See, gefolgt von den anderen. Am Ufer stand die ganze Gemeinschaft -Menschen, Einhörner und Kreischer. Alle starrten zu dem Fluss am Himmel hinauf. Jasmine hob den Kopf und sah, worauf die Blicke gerichtet waren: auf den Vollmond, dessen vollkommene Rundung wie ein leuchtendes, zitterndes Auge durch die schwebende, durchscheinende Rinne strömenden Wassers waberte – das Auge des Stroms hatte sie ganz erfasst.
    Jasmine blickte wieder hinunter auf den Boden. Zum ersten Mal fielen ihr die Reihen von Einhorn-Hörnern auf, die aufrecht im Boden fast um den ganzen See herum steckten. Sie kam auf den Gedanken, dass sie Zähnen um das dunkle, klaffende Maul eines Riesenfisches glichen.
    »Das Auge des Stroms ist wirklich ganz geöffnet«, flüsterte Ollie. »Und während es alle anderen so scharf ansieht, ist das für uns vielleicht der Zeitpunkt, unauffällig zu verschwinden.«
    Jasmine nickte, und sie schoben sich durch die Umstehenden nach hinten. Desireau hielt sie zurück.
    »Ihr müsst zusehen«, sagte sie. »Hier ist das Festmahl.« Ein gepresster Beiklang ihrer Stimme ließ sie zögern.
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