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Neue Zeit und Welt

Neue Zeit und Welt

Titel: Neue Zeit und Welt
Autoren: James Kahn
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man ihn ohne eine Linse gar nicht sehen kann. Die Amöbe besitzt eine membranhafte, verformbare Zellwand, die in verschiedenen Formen und Richtungen durch das Teichwasser, in dem sie lebt, überall hinquillt. Sie ernährt sich durch eine Methode, die Pinozytose heißt – sie umhüllt gewissermaßen ihre Nahrung mit Ausbuchtungen ihrer Wand, zieht sie durch die Wand in die zytoplasmische Gallerte, aus der sie besteht, und während die Wand sofort wiederersteht, wird die Nahrung von Enzymen im Zellplasma angegriffen und verdaut. Das wäre mit deinen Beinen auch bald geschehen.«
    »Aber warum nicht bei dir?«
    »Ich bin inaktiv. Das Ding kann Plastik nicht als etwas Essbares erkennen. Seine Enzyme sollten dem Polymer, aus dem meine Haut besteht, eigentlich nichts anhaben können, und deshalb hat es sozusagen umgekehrte Pinozytose geleistet und mich wieder ausgespuckt. Dasselbe würde geschehen, wenn wir einen Steinbrocken hineinwerfen würden.«
    »Und diese Säulen?« fragte Ollie. Es gefiel ihm, die Welt durch Jasmines Augen zu sehen. Sie wusste Dinge, die sonst niemand kannte, und manchmal war es ausgesprochen erregend, Erscheinungen aus der Perspektive ihres dreihundert Jahre alten Teleskops zu betrachten.
    »Ich bin mir nicht sicher, aber ich halte sie für röhrenförmige Ausläufer der Zellwand – lange, aufrechte Scheinfüßchen. Das Ding hat seine Wand dort verdickt, damit seine Masse der Schwerkraft standhalten kann. Und das Zeug im Inneren der Membranen ist kein Flusswasser, das hinabstürzt, oder ein unterirdischer Geysir, der hinaufspritzt – das ist strömendes Zellplasma, und als du die dicke Zellmembran mit dem Messer durchbohrt hast, ist es herausgeschossen.
    Die beiden röhrenartigen Pseudofüße bilden vermutlich eine dünne, flache, breite Brücke zwischen sich ganz oben, und diese Brücke ist das Flussbett über uns. Wir sitzen hier unten und sehen den Fluss darüberströmen, und die Brücke ist so dünn, dass wir glatt hindurchsehen können, durch die Zellwand und das Zellplasma und den Fluss hindurch, bis hinauf zu den Sternen.« Sie schüttelte staunend den Kopf, während sie die Schlussfolgerungen beim Entstehen aussprach.
    »Und das Flusswasser läuft außen an den röhrenförmigen Pseudofüßen herunter, damit die Membran nicht austrocknet, das Überlaufende füllt diesen Teich und bedeckt das Untier mit dreißig Zentimeter Wasser. Wahrscheinlich hat das Ding, als wir vorbeifuhren, noch einen zusätzlichen Pseudofuß in den Fluss hinaufgestreckt und uns durch die abwärts führende Röhre heruntergezogen, um uns hier am Ufer auszuspucken. Ich weiß natürlich nicht, warum es dich nicht gleich an Ort und Stelle verschlungen hat. Aber wir haben ja miterlebt, wie es den armen Kerl und die fünf Vögel vorhin fraß, und wie es eine Wandung gleich reparierte, nachdem du sie mit dem Messer durchbohrt hattest, bevor du beinahe doch noch verschlungen worden wärest. Also nein!« Sie schüttelte wieder den Kopf.
    »Und wie kommen wir denn dann hinaus?« wollte Ollie wissen.
    »Überschlafen wir das erst einmal. Ich weiß es selbst nicht, aber wenn wir nicht schlauer sind als ein Einzeller, können wir gleich einpacken.«
    Ollie hatte wenig Lust, die Frage unbeantwortet zu lassen, aber erschöpft von der Zerreißprobe war er bereit, sie auf sich beruhen zu lassen, zumindest für eine Weile.
    Als Jasmine erwachte, strömte durch den Fluss über ihnen Sonnenlicht in die Lichtung, und im Lager herrschte reges Alltagstreiben.
    Einhörner kauten Farnwedel oder dösten oder tranken am See; manche ließen die kleineren Menschenkinder auf sich reiten. Die Menschen kochten, spielten mit Bällen, murmelten Gebete oder flochten wunderschöne Federhalsbänder. Die Kreischer putzten sich oder hockten auf ihren Eiern, stolzierten vor ihren Gefährten auf und ab, watschelten ziellos umher, zupften an reifen Trompetenbaumkeimen oder schnappten nach einer Grille.
    Das Licht, das die Waldlichtung erfüllte, war von zartem Blaugrün. Jasmine blickte hinauf und kam zu dem Schluss, dass das vermutlich am Zellplasma der Amöbe lag: Das membranartige Flussbett, durch das hell die Sonne schien, war türkisfarben. Jasmine fragte sich, ob der Organismus nicht auch Chlorophyll enthalten mochte, mit dessen Hilfe er seine ›Festmähler‹ von Menschen und Kreischern durch den Honigsaft des Sonnenscheins ergänzte.
    Sie versuchte die Ausmaße ihres Geheges zu berechnen, ohne aber ganz erfolgreich zu sein. Sie waren auf allen
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