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Neue Zeit und Welt

Neue Zeit und Welt

Titel: Neue Zeit und Welt
Autoren: James Kahn
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hineinbohrte – zuckte davon wie eine sich zusammenziehende Faser. Die heftige Bewegung riss Ollie das Messer aus der Hand, und es fiel auf den Boden. Einen kurzen Augenblick lang zeigte sich in der Membran dort, wo die Messerspitze sie durchbohrt hatte, ein Loch. Wie aus einer Düse schoss ein Strahl heraus, dann verschloss sich das Loch plötzlich, und die Fontäne war wie abgeschnitten. Die Röhre schien zu erschlaffen und kehrte an ihren alten Platz zurück.
    Jasmine untersuchte die Stelle, wo das Messer eingedrungen war – sie zeigte sich glatt, hart und unbeschädigt wie vorher, ohne auch nur die Andeutung einer Narbe vorzuweisen.
    Ollie schüttelte betroffen den Kopf und hob sein Messer auf.
    »Was war das?« flüsterte er.
    Jasmine griff nach seinem Messer und betrachtete die Spitze. Dort hing ein winziges Stück klebriger, ein wenig gallertartiger Substanz. Sie ging zu einem nahen Lagerfeuer und hielt die Messerspitze kurz in die Flammen, bevor sie die verkohlte, rauchende Substanz an ihre Nase führte. Sie schnupperte, während Ollie herankam.
    »Was ist das?« fragte er.
    »Riecht organisch«, sagte sie. »Eigentlich unglaublich, aber ich glaube, dass das Ding lebendig ist.«
    Ollie sah sie verständnislos an.
    »Was für ein Ding?«
    »Der See«, sagte sie staunend. Sie gingen hin und knieten am Ufer nieder. Sie tauchte die gewölbte Hand hinein, führte sie an die Lippen, steckte die Zunge hinein. »Schmeckt wie Flusswasser.«
    Ollie beugte sich zur Wasseroberfläche hinunter, trank und gab ihr recht.
    »Was meinst du mit ›lebendig‹?« fragte er. Er setzte sich ans Ufer und ließ die Füße ins stille Wasser hängen. Das war beinahe das letzte, wozu er imstande war.
    Im nächsten Augenblick wurde er mit einem grauenhaft schmatzenden Laut in den See gerissen. Der Sog war ungeheuer stark, und es bedurfte Jasmines schneller Reflexe und ihrer ganzen Kraft, um ihren jungen Freund herauszuziehen, bevor er bis über die Oberschenkel eingesunken war.
    Sie legte ihn auf den Boden. Er hatte keinen Laut von sich gegeben, aber sein Blick verriet, dass er höllische Schmerzen durchlitt. Die Haut an seinen Beinen war durch Verbrennungen ersten und zweiten Grades gerötet.
    »Was ist passiert?« zischte sie, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass er nicht dauerhaft geschädigt worden war.
    »Mich hat etwas … gepackt«, sagte er heiser. »An den Beinen.«
    Jasmine kroch zum Ufer zurück. Sie steckte vorsichtig die Hand ins Wasser. Auf der Oberfläche breiteten sich konzentrische Wellen aus. Langsam ließ sie die Hand tiefer sinken. In einer Tiefe von ungefähr dreißig Zentimetern spürte sie etwas Hartes und Glattes. Sie fuhr mit den Fingern darüber. Es war eine Membran, die parallel zur Seeoberfläche verlief und weiter hinausreichte, als sie zu greifen vermochte. Sie fühlte sich nicht unähnlich derjenigen an, von der die Wassersäulen umgeben waren. Nur ein wenig dünner, so hatte es den Anschein. Sie drückte den Finger hinein. Das Material schien unter dem Druck nachzugeben, dann riss es plötzlich mit einem kleinen Knall, und Jasmine spürte, wie ihr Finger und ihre ganze Hand durch die Membran schossen, bis hin zum Handgelenk.
    Sie fühlte ein Prickeln, einen Druck, aber keine Schmerzen – allerdings bestand ja ihre Hand, wie ihr ganzer Körper – ausgenommen Gehirn und Nervensystem – aus Plastikpolymeren, Drähten, Chips und Stahl. Sie verspürte also selten dieselben Schmerzen, wie die meisten Menschen sie empfanden.
    Dann folgte ein Gefühl des Saugens, begleitet von Wirbeln im Wasser. Ihre Hand wurde ein wenig zur Seite gezogen, zurückgedrängt und schließlich unter Brodeln und Schaumbildung aus dem Wasser gestoßen. Jasmine blickte in den See hinab; klar wie Quellwasser. Sie hatte das Gefühl, bis zum Boden hinabsehen zu können.
    Sie stand und ging zu der Stelle zurück, wo Ollie am Boden saß. Er hatte sich von seinem Schrecken erholt und presste Moos auf die Verbrennungen, die Blasen zu bilden begannen.
    Jasmine setzte sich zu ihm.
    »Unfassbar, aber es ist so. Ein gigantischer Einzeller, der den ganzen See ausfüllt. Das heißt, ich weiß natürlich gar nicht, ob das Wesen einzellig ist, aber es verhält sich auf jeden Fall wie eine Riesenamöbe. Uh.« Sie schauderte.
    »Was ist eine Amöbe?« fragte Ollie.
    Jasmine legte sich auf den Rücken und starrte zu den Sternen hinauf, die durch den Fluss herabfunkelten.
    »Ein primitiver, einzelliger Organismus, in der Regel so klein, dass
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