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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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ich
mich um und schaute nach Osten, über Dächer hinweg, die sich zu den flachen
Industriegebieten und zur Bay hin erstreckten. Irgendwo dort drüben befand sich
das San Francisco General Hospital, in dem Jimmy zur psychiatrischen
Beobachtung festgehalten wurde; wenn die Menschen dort scharfsichtig genug
waren und sich wirklich um ihn kümmerten, würde er endlich die Behandlung
bekommen, die er schon seit langem nötig gehabt hätte. Was auch immer dabei
herauskommen würde, er hatte ein Heim auf Dauer, auf Kosten des Staates. Es war
ein Jammer, daß er hatte morden müssen, um das zu erreichen.
    Aber jetzt war nicht die Zeit für
düstere Überlegungen; das Dach um mich her war vollgestopft mit Menschen. Roy
LaFond war da und beriet mit Lan Vang und Mrs. Dinh, welche Art von Erde und
Samen und Werkzeug sie benötigten, um ihren Garten in den neuen Pflanzkisten
anzulegen, die er konstruiert hatte. Don lief mit einem Kassettenrecorder herum
und sammelte Material für eine Anschlußsendung über die Flüchtlinge. Die
Mädchen der Vangs — selbst Dolly, die sich vom Schock durch Knox’ Tod erholt
hatte — drängten sich mit anderen an dem Tisch, auf dem die Erfrischungen
bereit standen, nippten an süßem Obstpunsch und schwatzten über Jungen, Kleider
und Make-up — oder worüber amerikanische Teenager sonst so reden. Sogar Duc,
der tagelang nicht gerade kommunikativ gewesen war, war zu der Feier
erschienen. Er saß auf einem der Sessel, die LaFond dem Hotel geschenkt hatte,
gleich neben einem von Hoa Dinhs Brüdern.
    Der Besitzer hatte mich überrascht,
hatte uns alle überrascht, außer Mary Zemanek, die seit ein paar Tagen in seine
Pläne eingeweiht gewesen war. Er war es gewesen, der den lebenden
Weihnachtsbaum und den Schmuck in die Halle gebracht hatte, nachdem er von mir
erfahren hatte, daß der alte Weihnachtsbaum des Globe Hotels zerstört worden
war — eine Tat, die Jimmy Milligan gestanden hatte. Und an dem Tag, als ich
LaFond die Treppe zum Dach herunterkommen sah, hatte er alles für die
Pflanzkisten ausgemessen. Mrs. Zemanek war so außer sich gewesen, weil er ihr
den Schlüssel fortgenommen hatte, daß er sie in seine Pläne hatte einweihen müssen,
um sie zu besänftigen. Sie war es gewesen, die vorgeschlagen hatte, eine
Weihnachtsfeier für die Hausbewohner zu veranstalten. Mary hatte die
Erfrischungen vorbereitet; das Essen war ein Geschenk des Lebensmittelhändlers
Hung Tran; und die Anstecksträußchen, die jeder trug, stammten von Sallie Hyde.
    Jetzt wandte ich mich um und sah Mary
zu, die mit einer Platte mit Keksen durch die Tür kam. Sie hatte tagelang um
Jimmy Milligan getrauert — und hatte sich augenscheinlich schon vorher Sorgen
um ihn gemacht, nachdem sie die Tüte mit dem olivgrünen Laken gefunden hatte,
die ich in der Halle vergessen hatte. Sie hatte gesehen, wie Jimmy seine
Bettwäsche in einem Waschsalon in der Nähe gewaschen hatte, und als ich mich
nach der Tüte erkundigte, fing sie an zu vermuten, daß er in die Geschehnisse
sowie in Hoa Dinhs Tod verwickelt sein konnte. Heute jedoch sah sie ganz
fröhlich aus und schlug Sallie Hyde auf die Finger, als die dicke Frau sich
eine Handvoll Kekse schnappte, ehe die Platte überhaupt auf dem Tisch stand.
    Sallie watschelte zu mir herüber,
streckte mir die Hand hin und fragte: »Wollen Sie einen?«
    Ich nahm einen mit Silber bestreuten
Stern und mußte unwillkürlich an Jimmys silberne Apfel denken. Mein Ausdruck
mußte mich wohl verraten haben, denn Sallie fragte: »Sind Sie immer noch
traurig wegen Jimmy?«
    »Ja.«
    »Es ist zu schade mit ihm. Sein Irrsinn
ist wirklich außer Kontrolle geraten. Aber vielleicht wird es ihm dort, wo er
nicht selbst für sich sorgen muß, wirklich bessergehen.«
    »Vielleicht.« Ich biß in den Keks und
sah dabei Jenny Vang zu, die ihren Bruder Billy um einen eingetopften Obstbaum
jagte, der in der Nähe einer der Pflanzkisten stand.
    »In den Zeitungen stand, daß Sie den
Fall gelöst hätten. Sie nannten es ein ›literarisches Puzzle‹«, erzählte
Sallie. »War das wegen Jimmys Gedichten?«
    »Ja. Mary hat etwas zu mir gesagt,
nachdem Jimmy den Schmuck für den neuen Baum gebracht hat — «
    »Aus schlechtem Gewissen heraus, weil
er meinen kaputtgemacht hatte, das Schwein!«
    »Nun ja, aus schlechtem Gewissen. Auf
jeden Fall hat sie etwas dahingehend gesagt, daß Jimmys Zitate immer
Wiedergaben, was in seinem Leben vorging. Sie hat sein altes Lieblingsgedicht
erwähnt — ›The Song of
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