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Nette Nachbarn

Nette Nachbarn

Titel: Nette Nachbarn
Autoren: Marcia Muller
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»Ich
habe sie nie wiedergefunden.«
    »Vielleicht findest du sie auf der Isle
of Innisfree.« Ich fing an, ihn auf die Leiter zuzuschieben.
    Unter uns hörte man eilige Schritte.
Jimmy erwachte aus seiner Trance. Sein Gesicht wurde starr vor Angst.
    »Was — «
    Auf der Bühne unter uns standen
Polizisten. Ich rief: »Alles in Ordnung! Wir kommen nach unten. Unternehmen Sie
nichts!«
    Jimmy taumelte gegen mich, bekam Angst.
Ich packte ihn mit einer Hand, die Leiter mit der anderen. Die Planke schwankte
heftig. Er war zu stark für mich. Er würde ausgleiten und fallen. Wir würden
beide fallen...
    Und dann plötzlich — so, wie ich in der
Schule immer bei den Wettbewerben gewonnen hatte — traten mir Worte lebhaft ins
Gedächtnis. Ich sagte: »Wenn wir nach Innisfree kommen, dann will ich diese
silbernen Apfel pflücken. Auch die goldenen Äpfel. Die goldenen Äpfel, Jimmy.«
    Ich dämpfte seine Panik gerade lange
genug, um einen festeren Halt an seinem Arm zu bekommen. Und wieder löste ich
damit eine Rückkehr in seine andere, sanftere Welt aus. Er schaute mich einen
Moment lang an und sagte dann: »Wenn Sie mit mir mitkommen wollen, müssen Sie
die Worte richtig kennen.«
    Ich warf einen besorgten Blick nach
unten auf die Beamten, aber sie warteten, die Waffen auf uns gerichtet.
»Rezitiere es für mich.«
    »›Wenn ich auch alt bin vom Wandern...
durch flaches Land und über hügeliges Land... ich werde doch herausfinden,
wohin sie gegangen ist... und ihre Lippen küssen und ihre Hände nehmen..^«
    Ich drängte ihn zur Leiter. Langsam
fing er an hinabzusteigen, noch immer redend.
    »›Und durch langes, gesprenkeltes Gras
wandern... und bis ans Ende aller Zeit... die silbernen Äpfel des Mondes... und
die goldenen Äpfel der Sonne pflücken.‹«
    Erschöpft schickte ich mich an, hinter
ihm nach unten zu steigen, meine Füße auf der Sprosse, die seine Hände
umklammert hielten. Jimmy verstummte, und mir fiel nichts mehr ein, was ich
hätte sagen können. Auf halbem Weg zur Bühne packte seine Hand meinen rechten
Fuß, und ich kämpfte gegen eine plötzliche Panik an. Ich sah ihn vor mir, wie
er mich von der Leiter zerrte, stellte mir vor, wie es wäre zu fallen,
schreiend...
    Jimmy sagte: »Ich habe sie nie
gefunden.«
    Als ich wieder sprechen konnte, sagte
ich: »Vielleicht wirst du es, eines Tages.«
    »Nein, wir werden jetzt nie mehr zu den
silbernen Äpfeln kommen. Oder den goldenen. Oder überhaupt irgendwohin.« Und er
ließ meinen Fuß los und setzte den Abstieg fort.
    Ich war den Tränen nahe, als ich hinter
ihm herkletterte. Erreichte überhaupt irgend jemand von uns jemals die
silbernen Äpfel, geschweige denn die goldenen? Gelang das irgend jemandem,
geschweige denn einer verlorenen Seele wie Jimmy?
    Als er zur Bühne kam, stolperte Jimmy
von der Leiter, starrte entsetzt auf die Polizisten. Ich sprang nach unten und
trat beschützend zwischen ihn und die bewaffneten Männer. Als ich seine Hand
nahm, sah er auf mich herab und sagte: »Habe ich Ihnen erzählt, daß ein Gedicht
von mir einmal veröffentlicht worden ist? In einer kleinen Zeitschrift, aber
immerhin veröffentlicht.«
    »Kannst du es mir aufsagen?« bat ich.
    Er machte eine Pause, schaute dann über
meine Schulter auf die wartenden Polizisten. Als sein Blick wieder auf meinen
traf, waren seine Augen traurig und wurden düster. »Wissen Sie, ich kann mich
nicht mehr erinnern. Aber was macht das schon? Die Poesie ist der Fluch meines
Lebens.«
    Noch einmal hob er den Blick, schaute
die anderen an und sagte: »Können Sie sich vorstellen, was es bedeutet, in
dieser Welt die Seele eines Poeten zu haben?«
    Ich hielt Jimmys Hand während der
ganzen Zeit, als er von der Polizei verhört wurde, bis sie ihn von mir
fortführen mußten. Und dann rannte ich zu Don, der am Rand der Menge stand, und
umarmte ihn ganz fest.
    So wütend ich auch auf ihn war, er war
zumindest ein silberner Apfel — vielleicht sogar ein goldener.

FÜNFUNDZWANZIGSTES
KAPITEL
     
    Vom Dach des Globe Hotels sah die Stadt
gar nicht so schlecht aus. Hier oben war es möglich, so zu tun, als würden
Verwahrlosung und Häßlichkeit in den Straßen dort unten nicht existieren. Das
heißt, vorübergehend war das möglich.
    Ich stand im bleichen
Wintersonnenschein am Samstag, nachdem Jimmy Milligan verhaftet worden war, an
der Zementbalustrade und schaute über die eckigen Gebäude des Tenderloin
hinüber zu den graziösen Gebilden, die den Nob Hill krönten. Dann drehte
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