Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Nemesis 04 - In dunkelster Nacht

Titel: Nemesis 04 - In dunkelster Nacht
Autoren:
Vom Netzwerk:
oder?«
    Insgeheim fragte ich mich, wie Ellen wohl über Judith und mich dachte, und wie sie über mich reden würde, wenn ich derjenige wäre, der schwer verletzt oder gar tot irgendwo in dieser gottverdammten Burg herumliegen würde. Doch ich wollte mir lieber ihre potenzielle Hassrede gar nicht allzu genau vorstellen. Sie urteilte zu schnell über Maria. Sicher verdächtigte auch ich sie, genau wie alle anderen hier. Aber ich verhandelte im Stillen über meine Vermutungen und Ängste, bemühte mich darum, zumindest nach außen hin niemanden direkt ins Visier zu rücken, so lange ich nicht hundertprozentig sicher war, dass ich den Mörder unter uns ausgemacht hatte. Jeder von uns hatte sich auf seine Weise schon verdächtig benommen, sogar ich selbst.
    »Aber es war eine Kinderstimme ...«, murmelte Carl weinerlich.
    »Das heißt gar nichts!«, fuhr Ellen ihn harsch an. Ich zuckte erschrocken zusammen, und auch Judith warf mir einen irritierten Blick zu und griff unsicher nach meiner Hand. »Erstens weiß ich nicht, ob du wirklich mitbekommen hast, was passiert ist«, stellte die Ärztin fest. »Halb verrückt vor Angst ist man nicht gerade ein objektiver Beobachter. Und zweitens kann sich die Stimme eines Menschen unter bestimmten Bedingungen extrem verändern. Bei schizophrenen Patienten in der Psychiatrie kann man zum Beispiel beobachten, dass sie mit verschiedenen Stimmen sprechen, je nachdem, welcher Teil ihres gespaltenen Bewusstseins sich gerade zu Wort meldet.
    Bei solchen Patienten sind Wahnvorstellungen der Alltag. Vielleicht hat Maria ja tatsächlich mit Ed geschlafen ... Oder besser gesagt, einer der Gäste in ihrem verdrehten Verstand, hat es getan. Die anderen Persönlichkeitsanteile hätten dann daran keine Erinnerung. Dieser anderen Maria würde es wie eine infame Lüge erscheinen, wenn man behauptet, man habe mit ihr Sex gehabt. Und in gewisser Weise hätte sie damit sogar Recht ...«
    »Das erscheint mir alles ziemlich weit hergeholt.«
    Etwas in mir weigerte sich entschieden, Ellens Urteil so einfach anzuerkennen. Sie hätte eine hervorragende Staatsanwältin abgegeben, wie sie so vor uns stand, dachte ich bitter: Schön, kühl, selbstsicher und sachlich wirkend, und mit einem rhetorischen Geschick ausgestattet, das es dem Richter nur zu leicht machte, die Schuld des Angeklagten für plausibel zu halten, ohne dass Ellen dazu hieb- und stichfeste Fakten vorgebracht hätte. Für meinen Geschmack machte sie es sich eindeutig zu leicht. Wir konnten der grauen Maus doch nicht ernsthaft vorhalten, dass sie Ed in einer angespannten Lage angeblafft hatte? Und dass sie sich, wie außer Ellen alle anderen hier, wahrscheinlich zum ersten Mal mit einer Leiche konfrontiert gesehen hatte und kurzfristig durchgedreht war? Auch konnten wir ihr nicht verübeln, dass sie ein Verhalten an den Tag gelegt hatte, das ihr im Nachhinein wahrscheinlich einfach nur noch peinlich war, und dass sie Dinge gesagt hatte, die sie unter normalen Umständen ganz sicher niemals in den Mund genommen hätte. Ich konnte Maria nicht ausstehen.
    Dennoch verspürte ich in diesem Moment den Drang, sie in Schutz zu nehmen, obwohl sie nicht einmal bei uns war – vielleicht auch gerade deshalb. Auch ich hatte schließlich schon Mordgedanken gehabt, weil Ed mir mit seinen spinnerten Einfällen schlichtweg auf den Senkel gegangen war. Ich hatte nur nicht denselben Fehler gemacht wie Maria, sondern hatte diese Gedanken vorsichtshalber (aus Instinkt, Vernunft oder Feigheit, wer wusste das schon so genau) für mich behalten. Aber deswegen war ich noch lange kein Mörder. Mich schützend vor Maria zu stellen, war nicht ganz uneigennützig: So, wie Ellen nun über sie sprach und sie in ein denkbar schlechtes Licht rückte, sodass sie vielleicht besser daran tat, überhaupt nicht mehr hier aufzutauchen, würde Ellen auch über Carl und Judith urteilen, ebenso über mich.
    »Und, wie siehst du das? Hast du eine Meinung?« Ellen richtete ihre Frage nicht an mich, sondern blickte stattdessen Judith herausfordernd an.
    »Ich finde, dass du Recht hast«, erklärte Carl an ihrer Stelle in resignierendem, fast unterwürfigem Tonfall, noch bevor Judith Gelegenheit hatte, auch nur ein einziges Wort herauszubringen. »Ellen ist Ärztin. Sie weiß besser als wir alle, wovon sie spricht. Ich finde gerade diese verhuschten Typen immer unheimlich. Ich meine, wer hätte dieses unscheinbare, stille Ding schon für eine Mörderin gehalten ... ? Stille Wasser sind
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher