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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Licht spendete. Tassburg hatte eine Pfanne voll Eier, Speck und Kartoffeln gegessen und saß nun auf der verdammten Eckbank, die Pistole entsichert neben sich und trank noch eine Tasse Tee.
    Um nicht zu lügen: jetzt, bei Einbruch der Nacht, empfand er doch eine starke Spannung. Auch wenn er mit der Nüchternheit eines intelligenten Menschen alle diese Geistergeschichten als Unsinn bezeichnete – das ›Stille Haus‹ mit seinen dicken Holzwänden wirkte in der Nacht irgendwie bedrückend.
    Tassburg blieb bis gegen Mitternacht sitzen, löschte dann das Gaslicht im Wohnzimmer und ging zu Bett. Er zog sich nicht aus, breitete nur die Wolldecke über sich und legte die Pistole griffbereit neben sich. Sie werden sich wundern, dachte er zufrieden. Wenn die Leute von Satowka denken, sie können mich erschrecken, indem sie irgendeinen Spuk inszenieren, haben sie den Falschen vor sich. Ich bin ein moderner, aufgeklärter Mensch und lache über sogenannte Geister.
    Über diesen Gedanken schlief er ein. Irgendwann in der Nacht erwachte er, weil er, als er sich im Schlaf umdrehte, auf seine Pistole zu liegen kam und sie ihn seitlich drückte.
    Er drehte sich wieder auf den Rücken, öffnete verschlafen die Augen – und erstarrte.
    Im trüben Licht, das von draußen durch das Fenster fiel, in jenem fahlen Nachtlicht, in dem alle Formen zerfließen, stand eine Frau vor seinem Bett. Aus ihrem bleichen Gesicht blickten ihn große Augen an, und in der Hand hielt sie ein langes Messer.
    Tassburg war immer ein mutiger Mensch gewesen. Im Laufe seines noch jungen Lebens – er war erst 32 Jahre alt – war er mancher gefährlichen Situation begegnet. Einmal, in Südsibirien, am Amur, mußte er zwei Tage lang auf einem Baum sitzen, weil ihn zwei Tiger, ein Pärchen, belagerten. Als sie begannen, den Baum hinaufzuklettern, hatte er sie nur mit Fußtritten gegen die empfindliche Nase abwehren können – danach ist die Erscheinung eines Geistes ohne großes Zittern zu ertragen. Was ihn nur störte, war das lange Messer in der Hand der Frau – aber es gehörte wohl zu ihr, wenn man den Berichten über die Gräfin Albina Igorewna glauben konnte.
    Michail Sofronowitsch legte ganz langsam die Hand um den Griff seiner Pistole und fühlte sich schon viel wohler, als die Waffe schußbereit in seinen Fingern lag. Ein Messer, dachte er, ist gegen eine Pistole immer im Nachteil, es sei denn, man wirft es blitzschnell auf den Gegner. Aber das war nicht die Art der Gräfin Albina Igorewna, sie schlitzte nur die Hälse auf.
    Tassburg lag ruhig, lang ausgestreckt, die Decke bis zur Brust hochgezogen und betrachtete die bleiche Gestalt mit immer stärker werdendem Wohlwollen. Ein hübsches Mädchen mit langen, bis auf die Schultern herunterfallenden braunen Haaren war es, einem schmalen, zarten Gesicht, das von großen Augen beherrscht wurde. Es trug eine Bauernbluse über einer strammen Brust – nicht, wie die verstorbenen Zeugen vorheriger Erscheinungen übereinstimmend berichteten, ein langes weißes Gewand, einem Nachthemd ähnlich –, einen alten Rock, der nur bis zu den Knien reichte, und an den Beinen hohe Stiefel mit weichen Schäften. Eine ziemlich moderne Kleidung, fand Tassburg, aber es mag ja sein, daß auch Gespenster modebewußt sind.
    Was ihm außerdem auffiel, war die Jugend der Gräfin. Sie konnte nicht älter als zwanzig Jahre sein. Nach Tigrans Erzählung hatte er sie für eine Frau um die Dreißig gehalten, von einer reifen Schönheit, die ja dem armen Hauptmann Alexander Anatolowitsch den Verstand geraubt hatte – vor 150 Jahren! Sonst stimmte alles an der Erscheinung: das Messer in der Hand, die nächtliche Stunde, der Standort vor dem Bett, der starre, mitleidlose Blick, in dem kalter Vernichtungswille lag …
    Man sollte sie ansprechen, dachte Tassburg. Sich nur stumm anzustarren, ist ein langweiliges Spiel. Wobei man allerdings nicht weiß – es gibt darüber keine Berichte –, ob Geister antworten können, ob sie Worte hören können oder überhaupt ansprechbar sind.
    Er atmete tief durch und umkrampfte die Pistole. »Ich heiße Sie in meinem Haus willkommen, Albina Igorewna«, sagte Tassburg und ärgerte sich, daß seine Stimme doch ziemlich gepreßt und hohl klang. »Ich weiß, es ist Ihr Haus, aber wie Sie sehen, habe ich es wohnlicher herrichten lassen. Das Messer in Ihrer Hand irritiert mich. Machen Sie mich nicht dafür verantwortlich, daß der liebestolle Graf mit Ihrer Zofe geschlafen hat, und daß Alexander
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