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Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Natalia, ein Mädchen aus der Taiga

Titel: Natalia, ein Mädchen aus der Taiga
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Tigran Rassulowitsch Krotow, der Pope, ein schwarzbärtiger, sehr gelehrter Mann mit einer Baßstimme, der beim Gottesdienst alles niederbrüllte und damit Gottes Mächtigkeit demonstrierte, erklärte die Antenne den Leuten von Satowka mit bewegten Worten.
    »Mit diesem Stahlmast kann man Amerika hören!« sagte er ergriffen. »China, Japan, Brasilien und Swerdlowsk! Nach Satowka ist die ganze weite Welt gekommen. Halleluja!«
    Japan und Brasilien kannte man nicht, aber Swerdlowsk. In Satowka breitete sich Ehrfurcht aus. Freunde, welch eine grandiose Sache: Da steckt man einen Stahlmast in die Erde, hält ihn an Stahlseilen fest, spannt ein paar Drähte – und schon kann man bis Swerdlowsk hören! Unglaublich!
    Während die Fremden also ihr Lager aufbauten, Zelte hochzogen, den Latrinengraben aushoben und lustige Musik aus ein paar Transistorradios ertönte, fuhr ein einzelner Mann mit seinem Geländewagen zurück ins Dorf. Ein großer, schlanker Mann war es, mit blondem Haar, blauen Augen, breiten Schultern und langen Beinen, die in hohen Stiefeln staken. Ein Brüderchen, zu dem man Vertrauen haben konnte, und weil er allein einen Wagen fuhr und nicht wie die anderen seines Trupps arbeitete, nahm man an, daß er der Natschalnik war, der Anführer, eben etwas Gehobeneres.
    Der Fremde fuhr kreuz und quer durch das Dorf und hielt schließlich vor dem Haus von Anastasia Alexejewna. Dann stieg er aus dem Wagen, reckte sich etwas und betrachtete schließlich ein klobiges, aus dicken Baumstämmen gefügtes Haus, das der Hütte von Anastasia gegenüberlag. Ein gemeinsamer Zaun ließ keinen Zweifel daran: die beiden Häuser gehörten ein und demselben Besitzer.
    Der Fremde öffnete die Gartenpforte, betrat Anastasias Garten und ging auf das Blockhaus zu. Es war unbewohnt: man sah es an den kahlen Fenstern; kein Rauch wehte aus dem mächtigen Kamin, gemauert aus den Steinen der Tunguska, die dicke Bohlentür verschlossen und mit zwei gekreuzten Eisenstangen noch besonders gesichert. Das schien den Mann zu interessieren.
    Er ging an eines der Fenster, preßte das Gesicht an die blinde Scheibe und blickte in das Haus. Natürlich sah er nichts als Leere, Spinnweben und als einzige Einrichtung eine Eckbank, einen rohen Tisch und einen gemauerten Ofen, der unten ein offener Herd und oben die Plattform für die Schlafenden im Winter war.
    Auf der Straße standen ein paar Männer aus Satowka und stießen sich an, als sich der Fremde abwandte, hinüberging zu Anastasias Hütte und sie nach einem Anklopfen betrat. Die Zuschauer blickten sich stumm an und nickten sich – wie es schien – erschrocken zu. Dann strebten sie auseinander und verbreiteten die ungeheure Nachricht im Dorf: Der fremde Natschalnik hat das ›Leere Haus‹ berührt! Zwar nur die Scheibe und mit der Nase, aber immerhin: er hat es berührt! Drei Männer liefen sogar zum Popen, um ihm das Ereignis mitzuteilen.
    Tigran Rassulowitsch schlug ein Kreuz, beugte vor dem Bild der Schwarzen Muttergottes das Knie und sagte: »Man muß ihn warnen! Schütze ihn, Mutter aller Schmerzen! Auch wenn's ein Aberglaube sein sollte – man soll die dunklen Mächte nicht reizen und heraufbeschwören!«
    Dann steckte er einen Kanten Brot und ein Tütchen mit Salz in die Tasche seiner Soutane, segnete die drei Boten und machte sich mit langen Schritten auf den Weg zu Anastasia Alexejewna.
    Allerdings machte er einen Umweg, um, getreu seiner priesterlichen Pflicht, nachzusehen, was die Fremden am Dorfrand machten. Er sah den Idioten Jefim Aronowitsch mit großen Gesten reden, aber das war unwichtig. Erschreckender und alarmierender war es, daß bereits fünf Mädchen, kichernd und mit sich drehenden Unterkörpern, bei den Fremden standen und den Kontakt zur unbekannten weiten Welt knüpften.
    Der Pope kannte sie alle, drei davon hatte er sogar getauft. Er beschloß, am kommenden Sonntag eine Donnerpredigt über die Sünde fleischlicher Lust und deren irdische Gefahren loszulassen. Er betrachtete den Antennenmast, stellte sich noch einmal vor, daß dort oben an der Spitze sogar Australien hängen konnte, und ging einen abgekürzten Weg zum Haus der Witwe Morosowskaja.
    Natürlich hatte Anastasia Alexejewna, an ihrem Fenster sitzend, gesehen, wie der Fremde in das leere Haus geblickt hatte. Als er jetzt zu ihr ins Zimmer trat, mit einem vertrauenerweckenden Lächeln und einem Leuchten in den blauen Augen, das sogar der reifen Witwe Morosowskaja unter die Haut fuhr, war sie sehr verlegen
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