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Narben

Narben

Titel: Narben
Autoren: Jonathan Kellerman
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wenn er unterwegs zu einer Lesung oder Ausstellung war.«
    Sie zupfte an ihren Augenwimpern.
    »Bei solchen Gelegenheiten wurde ich ins Schulsekretariat beordert, und irgendeine Sekretärin reichte mir jeweils ehrfürchtig den Hörer. Ich nahm mich zusammen, sagte ›Hallo‹, und dann dröhnte seine Stimme durch die Leitung: ›Hallo, meine Kleine. Wie war das Frühstück heute? Gab es wieder Elch mit Blutsoße?‹ Witzig, nicht wahr? Genauso witzig wie seine blöden Jagdanekdoten. Dann erzählte er noch, was er gerade machte, und tschüs. Ich glaube, ich habe die ganzen Jahre nicht mehr als zwanzig Worte zu ihm gesprochen. - Als ich vierzehn war, beschloß ich endlich, daß es mir reichte, und ließ mich von einer Zimmergenossin am Telefon verleugnen. Danach hat er nie wieder angerufen. Mit einem großen Mann macht man so etwas nur einmal.«
    Sie versuchte zu lächeln. Die Lippen zuckten, und am Ende schaffte sie es, die Mundwinkel hochzuziehen.
    »Es ist wirklich nichts Besonderes, Dr. Delaware. Als Mutter starb, war ich noch so klein, daß ich gar nicht merkte, was ich verlor. Und er… er war einfach nicht da. Wie gesagt, vielen Leuten ergeht es viel schlimmer.«
    »Was Sie über Normalität und Mittelmäßigkeit gesagt haben…«
    »Das macht mir wirklich nichts aus. Peter ist genauso. Deshalb will der Alte wahrscheinlich nichts mit uns zu tun haben. Wir sind lebendige Zeugen, daß er Mittelmaß produziert hat. Wahrscheinlich wünscht er sich, daß wir einfach verschwinden.
    Die arme Jodie hat ihm den Wunsch erfüllt.«
    »Wie ist sie gestorben?«
    »Sie ging auf einen Berg in Nepal und kam nie mehr zurück. Den Gefallen haben ihm übrigens seine Frauen auch getan: Drei von vieren sind tot.«
    »Ihre Mutter muß sehr jung gewesen sein, als sie starb.«
    »Einundzwanzig. Sie bekam die Grippe und fiel in eine Art toxischen Schock.«
    »Sie war also erst zwanzig, als sie ihn heiratete.«
    »Knapp zwanzig, und er war sechsundvierzig! Sie heirateten in Paris. Peter ist dort geboren.«
    »Wann ließen sie sich scheiden?«
    »Es gab keine Scheidung. Gleich nach meiner Geburt ging er nach Frankreich zurück, und kurz darauf starb meine Mutter. Die Ärzte versuchten ihn anzurufen, als sie im Sterben lag, doch er ging nicht ans Telefon. Zwei Wochen nach dem Begräbnis bekam Tante Kate eine Postkarte und einen Scheck.«
    »Woher wissen Sie das alles?«
    »Von Peter, und der weiß es von Tante Kate. Er besuchte sie in Neuseeland, als er mit dem College fertig war.«
    »Sind Ken und Jodie älter als Sie und Ihr Bruder?«
    »Ja, sie sind die Kinder seiner zweiten Frau; Mutter war die dritte. Die erste war Thérèse Vainquer, die Dichterin. Haben Sie von ihr gehört?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »In Paris muß sie ganz schön populär gewesen sein nach dem Krieg. Am Ende lief sie mit einem Stierkämpfer davon und kam bald darauf bei einem Autounfall ums Leben. - Die nächste war Emma, Ken und Jodies Mutter, eine nicht sehr erfolgreiche Malerin. Sie starb vor fünfzehn oder sechzehn Jahren, an Brustkrebs, glaube ich. Sie hat er wegen meiner Mutter, Isabelle Frehling, verlassen. Die vierte Frau war eine Jane Soundso, Direktorin des Museum of Modern Art in New York. Sie trafen sich, weil das Museum eine Reihe seiner Gemälde im Keller verwahrte und er sie ausgestellt haben wollte, um seine Karriere als Maler wieder in Schwung zu bringen. Es ist nicht mehr viel los damit, wissen Sie. Auch nicht mit der Schreiberei. - Wie auch immer, Jane ließ er nach etwa einem Jahr sitzen, und seither hat er nicht mehr geheiratet, obwohl es mich nicht wundern würde, wenn er jetzt ein anderes junges Ding um sich hätte. Das gibt ihm die Illusion der Unsterblichkeit, wissen Sie!«
    Seltsam, dachte ich, daß sie wie ein Wasserfall über einen Mann reden konnte, der angeblich keine Rolle spielte in ihrem Leben.
    Sie schien meine Gedanken zu lesen. »Ich weiß, ich weiß, es klingt, als ob er mir nicht gleichgültig sein kann, wenn ich all das über ihn weiß, aber es kommt alles von Peter. Vor Jahren hatte er eine Phase, wo er seine Wurzeln entdecken wollte.«
    Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
    »Jetzt wissen wir wenigstens, daß Sie in Wirklichkeit nie in dieser Blockhütte gewesen sind«, sagte ich. »Jedenfalls nicht mit Ihrem Vater.«
    »Bitte, nennen Sie ihn Buck. Nennen Sie ihn, wie Sie wollen, reden Sie nur nicht von ihm als meinem Vater.«
    Sie faßte sich an den Bauch. Ich dachte an das Magengeschwür, von dem sie erzählt
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