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Narben

Narben

Titel: Narben
Autoren: Jonathan Kellerman
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hätte sie eine Kontaktlinse verloren, und drehte sich von mir weg.
    »Ich hatte gehofft, darüber müßten wir nicht reden; aber das hat nichts damit zu tun, daß er in dem Traum vorkommt.«
    Sie schaute mich an. Derselbe intensive Blick, der Milo im Gerichtssaal aufgefallen war.
    »Ich will Sie nicht zwingen, wenn Sie nicht darüber reden wollen.«
    »Das ist es nicht. Das Problem ist, daß sich immer alles ändert, sobald er ins Spiel kommt.«
    »Warum?«
    »Weil er ist, wer er ist.«
    Sie schaute an die Decke. »Nun fragen Sie schon.«
    »Also: Wer ist Ihr Vater?«
    »Morris Bayard Lowell«, sagte sie langsam, jede Silbe betonend, und lachte dann gequält. »Buck Lowell, unter Freunden.«

4
    Von Morris B. Lowell hatte ich gehört; so wie ich von Hemingway, Jackson Pollock und Dylan Thomas gehört hatte.
    Als ich in der High-School war, fanden sich einige seiner frühen Prosastücke und Gedichte in den Lesebüchern. Von seiner klecksigen Malerei hatte ich nie viel gehalten, obwohl ich wußte, daß etliches davon in Museen hing.
    Erstmals gedruckt, bevor er zwanzig war, ausgestellt nicht viel später, hatte er es vom Enfant terrible der Nachkriegszeit zum Grand Old Man der Literatur gebracht.
    Obwohl es nun Jahre her war, daß ich etwas von ihm gehört oder gelesen hatte.
    »Schockiert?« fragte Lucy grimmig, doch offenbar erleichtert, es los zu sein.
    »Ich verstehe, was Sie meinen. Es ändert die Dinge, doch für mich spielt er nur als Ihr Vater eine Rolle.«
    Sie lachte. »Vater? Er ließ meine Mutter sitzen, als ich ein paar Wochen alt war, und ließ sich nie wieder sehen.« Sie strich sich das Haar glatt und setzte sich aufrecht. »Nur, warum träume ich dann von ihm?«
    »Ein abwesender Vater kann in den Gedanken eines Kindes sehr präsent sein. Oft entwickeln sich Phantasien um so eine Figur.«
    »Phantasien über ihn? Sie meinen, ich phantasiere darüber, wie es gewesen wäre, wenn er mich ans Händchen genommen und zur Pulitzer-Preisverleihung mitgenommen hätte? - Nein, ganz und gar nicht. Er war viel zu schnell weg, als daß er irgendeine Rolle in meinem Leben spielen könnte.«
    »Aber wenn er ins Spiel kommt, ändert sich alles.«
    »Doch nur, weil er so berühmt ist. Es ist, als wäre man die Tochter des Präsidenten oder von Frank Sinatra. Die Leute akzeptieren Sie nicht mehr als das, was Sie sind, sondern nur noch als Sohn oder Tochter des großen Mannes. Und dann sind sie schockiert - genau wie Sie -, daß der große Mann so etwas verdammt Mittelmäßiges in die Welt gesetzt hat.«
    »Ich -«
    »Nein, nein, ist schon gut.« Sie wedelte mit der Hand. »Ich bin gern mittelmäßig: mit einem mittelmäßigen Job, einem mittelmäßigen Auto, einer ganz normalen Wohnung mit Rechnungen, Steuererklärung, Abwaschen und Müllsäcke Raustragen. Normalität ist das Paradies für mich, Dr. Delaware. Als ich aufwuchs, hatte ich das nicht.«
    »Ihre Mutter starb kurz nach Ihrer Geburt?«
    »Ich war ungefähr drei Monate alt.«
    »Wer hat Sie großgezogen?«
    »Ihre ältere Schwester, Tante Kate. Sie war selbst noch ein Kind, frisch von der Schule, und lebte in Greenwich Village. Ich kann mich nicht an viel aus dieser Zeit erinnern; ich weiß noch, daß sie mich und Peter ständig in irgendwelche Restaurants mitschleppte. Und dann heiratete sie den Schriftsteller Walter Lazar - den Namen kennen Sie bestimmt auch. Damals war er noch ein kleiner Reporter. Nach einem Jahr ließ sich Kate scheiden, schrieb sich an der Uni ein, studierte Ethnologie und ging auf Expeditionen nach Neu-Guinea. Für Peter und mich hieß das Internat, und dort blieben wir, bis wir achtzehn waren.«
    »Zusammen?«
    »Nein. Ich war immer auf reinen Mädchenschulen.«
    »Die Trennung war sicher schwer für Sie beide.«
    »Wir waren es gewöhnt, hin und her geschoben zu werden.«
    »Was ist mit den Halbgeschwistern, die Sie erwähnt haben?«
    »Ken und Jodie lebten bei ihrer Mutter in San Francisco. Es hat nie irgendwelchen Kontakt gegeben.«
    »Was hat Ihr Vater die ganze Zeit gemacht?«
    »Der war berühmt.«
    »Hat er Sie finanziell unterstützt?«
    »Na klar, die Schecks kamen regelmäßig. Für ihn war das kein Problem; er hatte von seiner Mutter ein Vermögen geerbt. Er regelte alles über seine Bank, einschließlich Schulgeldern und Unterhaltskosten. Sehr geschäftsmäßig für einen Bohemien, finden Sie nicht auch?«
    »Er hat Sie nie besucht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nicht ein einziges Mal. Er rief zwei oder dreimal im Jahr an,
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