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Narben

Narben

Titel: Narben
Autoren: Jonathan Kellerman
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hatte. »Wo haben Sie den Sommer verbracht, bevor Sie aufs College gingen?«
    Sie zögerte eine Sekunde. »Ich machte freiwilligen Sozialdienst an einer Vorschule in Boston.«
    »War das schwer für Sie?«
    »Nein. Es machte mir Spaß, Lehrerin zu spielen, und die Ghettokinder waren so dankbar. Man sah schon nach einem Sommer Erfolge.«
    »Haben Sie je erwogen, Lehrerin zu werden?«
    »Ich spielte mit dem Gedanken, aber nach all den Jahren in der Schule - ich bin praktisch in Schulen groß geworden - nein, ich dachte, das Klassenzimmer sei nicht das richtige für mich. Doch wenn der Buchhalterjob nicht gewesen wäre, hätte ich mich vielleicht anders entschieden. - Mehr gibt es nicht zu sagen. Verstehen Sie jetzt meinen Traum?«
    »Ganz und gar nicht.«
    Sie schaute mich an und lachte. »Wenigstens sind Sie ehrlich.«
    »Besser keine Antwort als eine falsche.«
    »Wie wahr.« Sie lachte immer noch, doch ihre Hände waren ruhelos, und sie klopfte mit den Füßen auf den Boden. »Ich bin ziemlich sauer.«
    »Worüber?«
    »Daß er in meinen Träumen auftaucht. Warum drängt er sich in mein Leben? Warum jetzt?«
    »Vielleicht sind Sie jetzt bereit, Ihre Gefühle, Ihre Wut auf ihn anzugehen.«
    »Vielleicht«, erwiderte sie zweifelnd. »Ich glaube eigentlich nicht, daß ich wütend auf ihn bin. Dafür ist er nicht wichtig genug.«
    Und doch war ihre Stimme hart vor Zorn.
    »Das Mädchen in Ihrem Traum: Wie alt war es noch mal?«
    »Neunzehn oder zwanzig, würde ich schätzen.«
    »Ungefähr so alt wie Ihre Mutter, als sie ihn heiratete.«
    Sie riß die Augen auf. »Sie denken also, ich träume davon, daß er meine Mutter vergewaltigt hat? Wie kommt es dann, daß meine Mutter blond war und das Mädchen in dem Traum dunkelhaarig?«
    »So etwas spielt in Träumen keine Rolle.«
    Sie dachte eine Weile nach. »Vielleicht haben Sie recht. Oder es hat einen anderen Symbolgehalt. Die jungen Dinger, hinter denen er immer her war - aber nein, ich glaube wirklich nicht, daß ich von seinen Freundinnen träume. Entschuldigung.«
    »Wofür?«
    »Daß ich Sie zu Interpretationen dränge und mich dann dagegen sträube.«
    »Das macht nichts. Es ist schließlich Ihr Traum.«
    »Allerdings - ich wünschte, es wäre nicht so. Haben Sie eine Idee, wie lange es noch so weitergehen kann?«
    »Leider nein, doch je mehr ich über Sie erfahre, desto größer wird die Chance, daß ich Ihnen antworten kann.«
    »Heißt das, wir müssen weiter über meine Vergangenheit reden?«
    »Es würde helfen, aber Sie sollten sich dabei nicht bedrängt fühlen.«
    »Muß ich über ihn reden?«
    »Nicht, bevor Sie dazu bereit sind.«
    »Und wenn ich das nie sein werde?«
    »Es liegt an Ihnen.«
    »Sie glauben wirklich, das würde helfen?«
    »Er ist in Ihrem Traum, Lucy.«
    Sie bemerkte, daß sie zitterte, und versuchte sich zu beherrschen.
    »Das wird hart werden.«

5
    Als sie gegangen war, dachte ich über ihren Traum nach. Schlafwandeln und Bettnässen.
    Störungen im Schlafrhythmus äußern sich oft in mehreren Symptomen - wiederkehrenden Alpträumen, Schlaflosigkeit, sogar epilepsieartigen Krämpfen. Doch das plötzliche Einsetzen von Lucys Symptomen konnte nur als Reaktion auf eine bestimmte Belastung gedeutet werden: die Gerichtsverhandlung oder etwas, das dadurch heraufbeschworen worden war.
    Interessant, daß sie den Begriff »Inkubus« benutzt hatte.
    Ein sexueller Eindringling. Der Vater, der die Jungfrau entführt.
    Ein Freudianer hätte seinen Spaß daran: unverarbeitete erotische Gefühle gegenüber dem Vater, der sie verlassen hat und sie nun in ihren Träumen verfolgt, weil die Gerichtsverhandlung ihre gewohnten Widerstandsmechanismen außer Kraft gesetzt hatte.
    In einem hatte sie recht: Dieser Vater war anders. Und er war wichtig.
    Ich fuhr Richtung Innenstadt und dann östlich zur Universität.
    Ich ging in die Forschungsbibliothek und suchte im Computerindex nach Morris B. Lowell. - Seitenweise Referenzen, Veröffentlichungen seit 1939, dem Jahr, in dem er seinen wichtigen ersten Roman herausbrachte, Der Hahnenschrei - dann seine anderen Romane, Gedichtbände und Ausstellungen. Um alles durchzulesen, hätte ich ein Semester in der Bibliothek verbringen müssen, also begann ich mit der Zeitspanne, die mit Lucys Traum zusammenfiel, vor ungefähr zweiundzwanzig Jahren.
    Die erste Referenz in dem Jahr bezog sich auf eine Gedichtsammlung mit dem Titel Es werde Licht , veröffentlicht am Neujahrstag. Der Rest waren Kritiken. Ich beschaffte mir
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