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Narben

Narben

Titel: Narben
Autoren: Jonathan Kellerman
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Es ist schließlich nur ein Traum. Vielleicht sollten wir die ganze Sache vergessen.«
    »Wiederkehrende schlechte Träume bedeuten normalerweise, daß etwas herauswill. Es wäre falsch, sich nicht damit zu beschäftigen.«
    »Was könnte es denn sein?«
    »Das müssen wir noch herausfinden. - Gibt es noch etwas, das Sie mir von dem Traum erzählen wollen?«
    Sie dachte nach. »Manchmal ändert sich die Tiefenschärfe mitten im Traum. Die Bilder werden verschwommen, dann wieder klar. Als ob jemand in meinem Kopf sitzt und ein Objektiv einstellt. Wie ein Inkubus. Wissen Sie, was das ist?«
    »Ein böser Geist, der schlafende Frauen heimsucht.« Und sie vergewaltigt.
    »Ein böser Geist«, wiederholte sie.
    »Erinnert das junge Mädchen im Traum Sie an jemanden, den Sie kennen?«
    »Ich sehe nur ihren Rücken. Nein.«
    »Können Sie sie beschreiben?«
    Sie schloß die Augen und wiegte den Kopf hin und her. »Mal sehen… Sie trägt einen kurzen weißen Rock - sehr kurz. Der Rock rutscht hoch, bis über ihren Hintern. Sie hat sehr lange Beine, schöne Beine, und langes dunkles Haar.«
    »Wie alt würden Sie sie schätzen?«
    »Ihr Körper ist jung und durchtrainiert.« Sie öffnete die Augen. »Das Verrückte ist, daß sie sich nicht rührt, nicht einmal, wenn ein Ast sie streift. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«
    »Auch nicht, was die Männer betrifft?«
    »Nein.«
    »Aber einer von ihnen ist mit Sicherheit Ihr Vater.« Sie schaute auf ihre Handtasche. »Ja.«
    »Sie sehen sein Gesicht?«
    »Ja, er dreht sich um, für eine Sekunde.« Sie war blaß geworden und schwitzte.
    »Was beunruhigt Sie im Moment, Lucy?«
    »Wenn ich darüber rede, bin ich wieder in diesem Wald. Der Traum macht mir angst. Ich will nicht dorthin zurück.«
    »Wovor haben Sie Angst?«
    »Daß sie mich finden. Ich sollte nicht dort sein.«
    »Wo sollten Sie denn sein?«
    »Drinnen.«
    »In der Hütte.« Sie nickte.
    »Hat Ihnen jemand gesagt, Sie sollten drinnen bleiben?«
    »Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich nicht draußen sein sollte.«
    Sie rieb sich das Gesicht, ganz ähnlich wie Milo, wenn er nervös oder gestreßt ist. Das Reiben verursachte Flecken in ihrem Gesicht.
    Sie streckte die Beine aus und schaute auf ihre bleichen Handknöchel. »Wahrscheinlich mache ich viel zuviel Aufhebens um die Sache. Ich bin gesund und habe eine gute Stellung. Andere haben kein Dach über dem Kopf, werden auf der Straße erschossen oder sterben an Aids.«
    »Nur weil es anderen schlechter geht, müssen Sie nicht still vor sich hin leiden.«
    »Anderen geht es viel schlechter. Ich hab’s gut, Dr. Delaware, glauben Sie mir.«
    »Warum reden Sie nicht darüber, Lucy?«
    »Worüber?«
    »Über Ihre Herkunft, Ihre Familie?«
    »Meine Herkunft«, sagte sie geistesabwesend, »danach haben Sie mich schon bei meinem ersten Besuch gefragt, aber ich bin ausgewichen, nicht wahr? Und dann haben Sie mich in Ruhe gelassen. Wie ein echter Gentleman. - Also, meine Herkunft: Geboren bin ich in New York City vor fünfundzwanzig Jahren, am vierzehnten April im Lenox Hill Hospital, um genau zu sein. Meine Kindheit und Jugend verbrachte ich in New York und Connecticut. Ich besuchte vornehme Mädchenschulen, und vor drei Jahren graduierte ich am Belding College. Ich habe Geschichte studiert, konnte aber nicht viel damit anfangen. Also begann ich als Buchhalterin, auch in Belding, wo ich die Finanzen des Fakultätsclubs und des Studentenverbands verwaltete. Ich hätte nie gedacht, daß ich einmal so etwas machen würde, denn Mathematik war nie meine Stärke, aber es gefiel mir. Ich mag die Ordnung. - Nach einer Weile sah ich am Schwarzen Brett den Job bei Bowlby und Sheldon und bewarb mich. Die Firma bot mir eine Stelle in Los Angeles an. Kurz entschlossen nahm ich an und ging in den Westen. Das ist alles. Nicht sehr aufschlußreich, nicht wahr?«
    »Und Ihre Familie?«
    »Die besteht im wesentlichen aus Peter, den Sie getroffen haben. Er ist ein Jahr älter als ich. Wir stehen uns sehr nahe.«
    »Er ist Ihr einziger direkter Verwandter?«
    »Der einzige richtige Bruder. Wir haben noch einen Halbbruder in San Francisco, mit dem wir keinen Kontakt haben, und der hatte eine Schwester, die vor mehreren Jahren starb.« Sie stockte. »Meine Großeltern, Onkel und Tanten sind alle verstorben. Meine Mutter starb kurz nach meiner Geburt.«
    Seltsam, dachte ich, für eine junge Frau, von soviel Tod umgeben zu sein. »Was ist mit Ihrem Vater?«
    Sie schaute auf den Boden, als
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