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Narben

Narben

Titel: Narben
Autoren: Jonathan Kellerman
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nickte.
    »Wer ist es?«
    Keine Antwort, nur schnelle, flache Atemzüge.
    »Wer sind die Männer, Lucy?« fragte ich leise.
    Sie seufzte. »Mein Vater… mein Vater und andere Männer und…«
    »Und wer?«
    Fast unhörbar: »Ein Mädchen.«
    »Ein kleines Mädchen wie Sie?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, eine junge Frau. Er trägt sie - auf seiner Schulter.«
    »Ihr Vater trägt eine junge Frau durch den Wald?«
    »Nein, nicht er. Der andere.«
    »Erkennen Sie ihn?«
    »Nein.« Sie versteifte sich, als fühlte sie sich bedroht. »Ich kann nur ihre Rücken sehen.« Sie sprach immer schneller. »Sie liegt auf seiner Schulter wie ein Sack Kartoffeln. Ihr Haar hängt herunter.«
    Plötzlich riß sie die Augen auf. »Es ist verrückt. Es ist fast, als wäre ich wieder in diesem Wald.«
    »Keine Sorge, Lucy. Entspannen Sie sich.«
    Sie schloß wieder die Augen. »Es ist dunkel. Nur der Mond, ein großer Mond… und… sie tragen sie immer noch.«
    »Wohin?«
    »Ich weiß es nicht.« Ihr Gesicht verzerrte sich. Schweiß trat auf ihre Stirn. »Ich folge ihnen.«
    »Wissen sie das?«
    »Nein. Ich bin hinter ihnen. Die Bäume sind so groß. Sie gehen immer weiter, überall Bäume. Riesige Bäume, mit herunterhängenden Ästen…« Sie holte tief Atem. »Sie bleiben stehen und legen sie auf den Boden. Ich habe Angst, sie könnten mich entdecken, doch sie drehen mir den Rücken zu und gehen weiter. Ich kann sie nicht mehr sehen. Es ist zu dunkel… Ich habe mich verlaufen… Dann die Geräusche… Reiben, Knirschen… ja, Knirschen. Immer wieder.«
    Sie öffnete die Augen. »Das ist alles. Derselbe Traum, derselbe Wald, immer wieder.«
    »Wie oft hatten Sie den Traum?«
    »Dreißig oder vierzigmal vielleicht. Ich habe nicht gezählt.«
    »Jede Nacht?«
    »Manchmal nur zwei oder dreimal die Woche.«
    »Und seit wann?«
    »Seit Mitte der Verhandlung; das heißt, seit ungefähr vier oder fünf Monaten. Aber, wie ich schon sagte, nach unserem ersten Treffen hörte es auf. Bis gestern abend.«
    »Sieht die Frau in dem Traum wie eines von Schwandts Opfern aus?«
    »Nein. Vielleicht täusche ich mich ja, aber ich habe das Gefühl, es hat überhaupt nichts mit ihm zu tun. Ich weiß nicht warum, aber das ist mein Gefühl.«
    »Und vor der Verhandlung hatten Sie diesen Traum nie?«
    »Nie.«
    »Passierte in der Mitte der Verhandlung etwas Besonderes? Waren Sie angespannter als sonst?«
    »Eigentlich begann es nach Milo Sturgis’ Aussage darüber, was Carrie durchgemacht haben mußte. Vielleicht rief es etwas wach in mir. Ich identifizierte mich mit Carrie und wurde selbst wieder zum kleinen Mädchen. Glauben Sie, das ist möglich?«
    »Durchaus.«
    »Verstehen Sie, der Traum kommt mir so schrecklich bekannt vor, fast wie ein Déjà-vu, und gleichzeitig neu und fremdartig. Und jetzt die Schlafwandlerei. Ich mache mir allmählich Sorgen, ich könnte die Kontrolle verlieren.«
    »Hatten Sie früher schon eine Neigung zum Schlafwandeln?«
    »Nein. Jedenfalls habe ich nie etwas bemerkt.«
    »Haben Sie als Kind ins Bett gemacht?« Sie errötete. »Was hat das damit zu tun?«
    »Schlafwandeln und Bettnässen sind verwandt. Manche Leute sind genetisch zu beidem veranlagt.«
    »Ach so… ja, ich habe ins Bett gemacht, als ich sehr klein war.«
    Sie rutschte auf dem Sessel herum.
    »Wachen Sie auf von den Träumen?«
    »Ich wache auf und denke darüber nach.«
    »Zu einer bestimmten Uhrzeit?«
    »Frühmorgens, wenn es noch dunkel ist.«
    »Wie fühlen Sie sich, wenn Sie dann aufwachen?«
    »Mir ist etwas übel. Ich schwitze und friere gleichzeitig und habe Herzklopfen. Manchmal habe ich auch Bauchschmerzen, wie von einem Magengeschwür.« Sie zeigte mit dem Finger auf ihren Bauch unmittelbar unter dem Brustbein.
    »Hatten Sie schon einmal ein Magengeschwür?«
    »Nur ein kleines, ein paar Wochen lang in dem Sommer, bevor ich aufs College ging. Die Träume geben mir ein ähnliches Gefühl, nur nicht so schlimm. Normalerweise hören die Schmerzen auf, wenn ich mich hinlege und entspanne. Wenn nicht, dann hilft eine Tablette.«
    »Haben Sie öfter Bauchweh?«
    »Ab und zu, aber nichts Ernstes. Ich bin kerngesund.«
    Sie schaute wieder aufs Wasser. »Was meinen Sie, was die Geräusche bedeuten könnten? Das Knirschen?«
    »Was meinen Sie , Lucy?«
    »Etwas Sexuelles, nehme ich an«, sagte sie nach langem Zögern. »Der Rhythmus, verstehen Sie?«
    »Sie glauben, die Männer hätten mit dem Mädchen geschlafen?«
    »Vielleicht. Aber was soll’s?
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