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Lumpenloretta

Lumpenloretta

Titel: Lumpenloretta
Autoren: Christine Nöstlinger
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UNSERE SIEDLUNG MUSST DU DIR so vorstellen: Eine schnurgerade, nicht sehr breite Straße, zu beiden Seiten Alleebäume und dahinter Einfamilienhäuser mit winzigen Vorgärten und ein bisschen weniger winzigen Gärten hinter den Häusern. Ein Haus schaut aus wie das andere, und wenn du unbedingt etwas finden willst, was die weißen Betonwürfel mit den dunkelgrauen Spitzdächern voneinander unterscheidet, musst du dich an die Nummernschilder auf den Haustüren halten. 1-3-5-7 bis 49 auf der linken Straßenseite, 2-4-6-8 bis 50 auf der rechten.
    Ein Geschäft, wo du etwas einkaufen könntest, gibt es bei uns in der Siedlung nicht. Auch kein Wirtshaus, keinen Zeitungs-Kiosk, keinen Kinderspielplatz und keine Garagen für die PKW. Die müssen am Straßenrand, zwischen den Alleebäumen parken, und die stehen so dicht aneinander, dass dazwischen bloß zwei Autos Platz haben. Vor fünfzig Jahren, wie die Siedlung gebaut worden ist, hat man sich nicht vorstellen können, dass es einmal fast so viele Autos wie Menschen geben wird und Parkplätze knapp werden könnten. Bus fährt durch unsere Straße auch keiner. Die nächste Bushaltestelle ist auf der B2, bis dorthin sind es zehn Minuten zu Fuß. Das stört die Erwachsenen nicht, die haben ja alle ein Auto. Aber wenn du ein Kind bist und einen Bleistift, einen Kaugummi, ein Heft oder sonst etwas brauchst oder am Morgen zum Bus musst, der zur Schule fährt, kannst du losradeln; was aber, wenn du noch nicht zwölf bist, eigentlich nur in Begleitung von Erwachsenen erlaubt wäre. Und im Winter, wenn alles vereist und verschneit ist, musst du sowieso jappeln und dir die Nase rot frieren, falls deine Mutter oder dein Vater nicht so gütig ist, dich mit dem Auto zur Schule oder wenigstens zur Bushaltestelle zu fahren.
    Kinder gibt es in der Siedlung zwar jede Menge, altersmäßig brauchbare allerdings, wenn du so zwischen zehn und vierzehn bist, mit denen sich etwas halbwegs Vernünftiges unternehmen lässt, sind Mangelware, die hast du bis letzten August an einer Hand mit amputiertem Daumen abzählen können: Glatze, Zecke, Locke und Zahn. Und dann ist als Daumen noch die Loretta dazugekommen, wegen der die ganze Geschichte, um die es hier geht, passiert ist. Obwohl: Warum etwas passiert, weiß man in Wirklichkeit nie so genau, du denkst dir halt bloß, dies oder jenes sei der Grund dafür. Je nachdem, wie es dir in den Kram passt.
    Jedenfalls sind alle anderen Kinder in der Siedlung Buggy-Babys, Kindergartenzwerge und Volksschulstöpsel. Außerdem gibt es noch eine kleine, arscharrogante Clique von sechzehn-, siebzehnjährigen Schnepfen und Dilos, die mit niemandem reden, der auch nur ein bisschen jünger ist als sie. Diese Typen geben dir nicht einmal Antwort, wenn du sie freundlich grüßt, und stehst du am Morgen im Bus neben ihnen, schauen sie durch dich durch, als wärst du glasklare Gebirgsluft.
    Wer die Volksschule hinter sich hat, fährt an jedem Schultag mit dem Bus vier Stationen zum Gymnasium am Oberhuberplatz. Die Volksschulknirpse fahren nur eine Station mit. Zur Reichtaler-Schule. Hauptschüler und Lehrlinge haben wir in der Siedlung nicht, auch die Deppen gehen ins Gymnasium. Und wenn sie es trotz vieler Nachhilfestunden nicht schaffen, kriegen sie eine Maturaschule aufs Auge gedrückt. Der große Bruder von Zecke zum Beispiel geht noch immer in so eine private Schule, dabei ist er dreiundzwanzig und hat angeblich irgendwo eine Ex-Tussi, die ein Baby von ihm erwartet; was aber geheim ist. Und Zecke ist es streng verboten, darüber zu reden. Zecke hält sich an Verbote, die ihm blöd vorkommen, allerdings nicht.
    Frag mich bloß nicht, warum alle Eltern in unserer Siedlung den Bildungstick haben. Ich weiß keine Antwort drauf. Höchstens, was der Großvater von Locke einmal gesagt hat, nämlich: „Das ist halt so bei den sozialen Aufsteigern.“
    Locke hat ihn gefragt, was „soziale Aufsteiger“ sind, doch da hat er von einem Ohrwaschel bis zum anderen böse gegrinst und gesagt, dass er ihr das erst nächsten Montag erklären wird, weil er sich vorgenommen hat, seinen Schwiegersohn und seine Tochter nur zweimal die Woche zu beleidigen, und das hat er diese Woche bereits erledigt. Aber am Sonntag vor dem nächsten Montag hat er leider einen Schlaganfall gehabt und einen schief gezogenen Mund davon bekommen und sich beim Reden schwer getan, und Locke hat ihn mit unnötigen Fragen nicht belästigen wollen.
    Der große Bruder von Zecke behauptet, dass die „sozialen
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