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Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Zeit zu hassen, Zeit zu lieben

Titel: Zeit zu hassen, Zeit zu lieben
Autoren: Willi Faehrmann
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    Sie rannten über den Platz, hetzten in wilder Flucht auf die Straßen und Gassen zu, die in die Richtung der Arbeiterviertel führten.
    Einige schlüpften auch in Toreinfahrten oder rüttelten an Haustüren. Sie wollten sich in den verwinkelten Hinterhäusern und finsteren Höfen verbergen. Flüche und verzweifelte Schreie klangen auf, wirre Kommandos wurden gegeben, die hohen Häusermauern rund um den Platz warfen den Peitschenknall ziellos abgegebener Schüsse zurück.
    Inmitten des Lärms, zunächst kaum wahrnehmbar, wuchs ein Geräusch, wie ferner Trommelschlag erst, härter dann und näher und näher, Eisen schlug auf Stein, Stiefeltritte. Links und rechts an den Häuserzeilen der Hauptstraße entlang marschierten Kolonnen. Die Spitzen erreichten den Platz, Soldaten in feldgrauen Uniformen, Stahlhelm an Stahlhelm. Deutlich waren sie im ersten Morgenlicht zu erkennen. Sie kamen wie Sieger daher, aufrecht, ohne besonders auf Deckung zu achten, wollten versprengte Gruppen der Aufständischen jagen. Eine scharfe Stimme schrie Befehle. Die Kolonnen schwärmten geordnet aus, die Flügel schneller als die Mitte. Die Soldaten trugen ihr Gewehr schussbereit unter dem Arm und einige schleppten Maschinengewehre mit sich. Die Backen einer Zange umschlossen den Platz. Aber es gab nichts mehr zu greifen. Die rebellierenden Arbeiter, die Spartakisten, alle, die bereit gewesen waren, einen anderen Staat zu erzwingen, hatten sich verlaufen. Nur noch ein Junge war zurückgeblieben. Er kniete mitten auf dem Platz neben einem Mann, der lang ausgestreckt auf dem Basaltpflaster lag. Der Mann trug eine abgerissene Matrosenuniform. Der Junge starrte voller Angst auf die heranrückenden Soldaten. Einige feuerten ihre Gewehre ab, zielten nach den letzten Fliehenden, schossen blind in die Toreinfahrten hinein, Kugeln prallten von den Häuserwänden und sirrten durch die Luft. Die Männer achteten nicht auf den Jungen. Sie erreichten die Mitte des Platzes, liefen an ihm vorüber und strebten den gegenüberliegenden Häusern zu. Einer jedoch, ein Offizier offenbar, schon einige Schritte an dem Jungen vorbei, kehrte zurück und zerrte den Jungen am Arm von dem Matrosen fort. Dieser Matrose zog mit letzter Kraft eine Handgranate aus dem Gürtel. Er versuchte vergebens, sie zum Munde zu führen, um die Abreißschnur mit den Zähnen zu ziehen. Schlaff sank sein Arm nieder und die Handgranate entglitt ihm. Der Offizier, die Pistole in der linken Hand, schoss zweimal. Lang ausgestreckt und regungslos lag der Matrose auf dem Pflaster.
    Der Offizier blieb einen Augenblick unschlüssig stehen, stülpte den Stahlhelm nach vorn vom Kopf und wischte sich mit dem Ärmel die Stirn. Dann drehte er sich zu dem Jungen. Der duckte sich nieder. Er redete auf den Jungen ein, doch der rührte sich nicht. Schließlich zog der Offizier eine flache Flasche aus der Seitentasche, nahm hastig einen Schluck und rannte weiter, schnell jetzt, und suchte Anschluss an seine Truppe zu gewinnen. Im Laufen setzte er den Stahlhelm wieder auf.
    Der Junge raffte ein Transparent, das irgendwer weggeworfen hatte, vom Boden auf, kroch auf allen vieren zu dem Matrosen zurück und bedeckte dessen Leib und Beine mit dem Tuch. Dann setzte er sich auf das Pflaster und bettete den Kopf des Toten in seinen Schoß.
    Die Fliehenden waren längst verschwunden. Der Tritt der Soldaten verhallte. Der Platz lag ruhig in der Dämmerung des 12. Januar. Von fern läutete eine Glocke zum Frühgottesdienst. Paul hatte alles aus einem sicheren Versteck mit angesehen. Als der Lärm aufwallte, die abgerissenen Gestalten über den Platz strömten und fortrannten, da hatte er gewusst, was kommen würde. Die letzten Kriegsjahre hatten es ihm beigebracht, Deckung zu suchen. Manchmal ertappte er sich dabei, wie er in völlig friedlichen Situationen nach Türlöchern Ausschau hielt oder nach niedrigen Mauern. Bei seinem letzten Urlaub in Liebenberg hatte er sich jede Bodenwelle eingeprägt, jeden Graben längs der Landstraßen wahrgenommen, obwohl der Krieg gegen Rußland schon über einen Monat zu Ende gewesen war und Ostpreußen nichts mehr befürchten musste.
    Als die ersten Schüsse peitschten, hatte er sich durch einen ebenerdigen Fensterspalt in einen Keller gezwängt. Aus diesem Schlupfloch heraus hatte er mit angesehen, wie zwei Kompanien des Majors von Stephani die geschlagenen Spartakisten und den bunt zusammengewürfelten Haufen von Arbeitern jagten. Sieben Tage lang war in Berlin Revolution.
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