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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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den Kragen seines Mantels kauerte.
    Und ob etwas fehlte oder nicht: Die Nazis regten sich auf. Dass es angesichts der vollständigen Unterlagen keinen Anlass gab, war Grund genug. »Nun sieh ihn dir an, diesen neunmalklugen Juden«, sagte der SS -Mann zu seinem Kumpan, um danach den Familienvater böse anzufahren: »Jetzt fühlst du dich sicher, was? Freu dich mal nicht zu früh. Auspacken!«
    Der Mann öffnete seine Aktentasche und der Nazi wedelte mit der Hand darin herum. Proviantpäckchen fielen zu Boden, ein Apfel rollte auf uns zu. Roll weiter!, flehte ich stumm, aber es half nichts, der Apfel kollerte zielstrebig direkt vor meine Füße, wackelte noch ein bisschen und blieb liegen.
    »Na wird’s bald?«, schrie der Nazi. »Aufheben, aber dalli!«
    Der Mann bückte sich. Von einer Minute zur anderen war um uns herum auf einmal viel Platz. Es war wie auf dem Pausenhof meiner alten Schule, sobald Richard und seine Freunde auf uns losgingen: Die einen traten zurück, um besser, die anderen, um nichts zu sehen. Der Mann griff hier nach einem Brotpäckchen, zog da eine Thermoskanne zwischen fremden Füßen hervor; er hatte eine schicksalsergebene Art, die mich an meinen eigenen Vater erinnerte, aber als er sich nach dem Apfel umsah, begegneten sich unsere Blicke und ich sah Trauer und Wut in seinen Augen.
    »Ziska, nicht …!«, flüsterte Mamu.
    Erschrocken zog ich meine Hand zurück, die in Richtung des Apfels hatte zucken wollen. Der Mann zögerte, dann wandte er sich ab. Ich verstand, dass er die Aufmerksamkeit nicht auf mich lenken wollte.
    Vergebliche Mühe – natürlich hatten die Nazis uns längst im Visier. Sie gaben dem Mann seine Dokumente mit der Drohung zurück: »Wir sehen uns wieder, verlass dich drauf!«, und steuerten unverzüglich auf uns zu.
    »Papiere!«
    Papa hielt sie schon bereit. »Wo ist der andere?«, fragte der SS -Mann barsch.
    »Der … andere?«
    »Ihr wart doch eben noch zu viert.«
    Papa wurde bleich.
    »Unser Nachbar!«, fiel Mamu ein. »Wir haben ihn rein zufällig draußen getroffen und er hat uns mit den Koffern geholfen.«
    »Name?«
    »Anton Graditz.«
    Ich schluckte vor Hochachtung. Mamu war ebenso kaltblütig wie Bekka, wenn es darauf ankam. Auch dem Wolf hatte sie furchtlos ins Gesicht geblickt – nicht, dass es ihr etwas genützt hätte.
    »Er sitzt bestimmt längst in seinem Zug«, fügte sie hinzu.
    »Halt’s Maul!«, herrschte der SA -Kerl sie an, dessen Gesichtszüge an ein Wiesel erinnerten. »Ein Deutscher, der einer Judensau die Koffer trägt? Das könnte euch so passen!«
    Mit Schwung riss er Mamu die Handtasche von der Schulter und warf sie auf den Boden. »Jetzt woll’n wir doch mal sehen, ob sie dir einer aufhebt«, sagte er gehässig.
    Der äußere Rand der Menge, die uns umstand, bröckelte, als einige weitere Leute verstohlen das Weite suchten. Mit rotem Gesicht bückte sich Mamu und nahm ihre Tasche an sich, worauf das Wiesel sie sofort wieder wegschleuderte.
    »Hab ich was von Aufheben gesagt?«, schrie es.
    In diesem Moment knackte der Lautsprecher. Ein glühend heißer Strahl durchfuhr meinen Körper. So musste es sich anfühlen, wenn man ein Messer genau an der Stelle in den Rücken gestoßen bekam, die alles zusammenhielt.
    Eine Stimme schnarrte: »Der Expresszug nach Genua wird soeben auf Gleis 1 bereitgestellt.«
    Auf Papas Gesicht erschien ein halb staunender, halb resignierter Ausdruck und er starrte auf unsere lebensrettenden Papiere in den Händen des SS -Mannes, als könnten diese jeden Augenblick in Flammen aufgehen.
    »Das ist unser Zug«, sagte Mamu leise zu dem Wiesel.
    »Euer Zug?«, krähte das Wiesel. »Euch gehört hier überhaupt nichts.«
    Meine Füße schienen vom Boden abzuheben. Ich sah die andere jüdische Familie blitzschnell ihr Gepäck nehmen und verschwinden, bevor der Kreis um uns sich wieder schloss. Mäntel, Hüte, Schuhe. Ich schwebte, ich bekam keine Luft mehr.
    Plötzlich rief jemand: »Lasst sie doch abhauen, Mensch!«
    Die beiden Nazis blickten überrascht auf. Dieselbe Stimme rief: »Das macht drei weniger! Was wollt ihr denn noch?«
    Die Stimme gehörte zu einem großen Mann, dem ein Arm fehlte und der sich mit dem anderen schwer auf einen Stock stützte. Bestimmt ein Weltkriegsveteran. Die Umstehenden wurden unruhig, mehrere nickten und brummten; das Wort von Veteranen galt etwas, wenn sie nicht gerade jüdische Großeltern besaßen wie mein Vater.
    »Der Herr muss uns schon unsere Pflicht tun lassen!«, rief das
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