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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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Wiesel scharf, aber es ließ tatsächlich von Mamu ab und beugte sich zusammen mit dem SS -Mann über unsere Papiere.
    Der Mann mit dem Stock blieb aufrecht und mit strengem Blick stehen, wie um sich mit eigenen Augen zu überzeugen, dass wir wirklich in den Zug stiegen. Uns selbst beachtete er nicht, wir waren weniger als unsichtbar, wir hätten genauso gut abheben und durch die Halle schweben können.
    Mit einem Mal wurden meine Hände ganz warm, ganz schwer; es war, als ob sie mich an etwas erinnern wollten. Noch im Sitzen hob ich erst vorsichtig den Apfel auf … nichts geschah … ging in die Hocke, nahm allen Mut zusammen, nahm Mamus Tasche … das Wiesel tat, als hätte es nichts gesehen.
    Da wusste ich, dass alles gut gehen und wir den Zug nicht verpassen würden, weil ein fremder Mann sich eingemischt und die Nazis daran erinnert hatte, dass alle in Deutschland wollten, dass wir abhauten.
    Das Wiesel bleckte enttäuscht die Zähne, als es uns die Papiere zurückgab. »Wir kriegen euch sowieso«, sagte es. »Überall. So weit könnt ihr gar nicht fahren.«
    Für bestimmte Anlässe, oder um eigene Argumente zu untermauern, griff mein Vater bisweilen zu einem Bibelspruch.
    »Wenn es nur einen Gerechten in diesem Land gibt, werde ich es nicht verdammen«, erklärte er, kaum dass wir – erleichtert, außer Atem, schwindlig – auf unsere Plätze im Zug gefallen waren. Wir hatten ein winziges Liegewagenabteil für uns; dennoch redeten meine Eltern mit gedämpften Stimmen, damit man uns durch die dünnen Wände, die uns von den anderen Fahrgästen abschirmten, nicht hörte.
    Aus der Zeit, in der ich in den evangelischen Religionsunterricht hatte gehen dürfen – ohne zu ahnen, dass meine Tage dort gezählt waren –, glaubte ich mich zu erinnern, dass der Spruch anders lautete, aber Papa störte das nicht; er fand, dass die Bibel dazu da war, sie sich nach Bedarf anzuverwandeln.
    »Du glaubst doch nicht im Ernst«, protestierte Mamu, »der hätte sich eingemischt, um uns zu helfen ?«
    »Aber natürlich, was denn sonst?«, erwiderte Papa verblüfft.
    Auf den wenigen Metern zwischen Wartehalle und Zug war eine Veränderung mit ihm vorgegangen. Seit seiner Entlassung konnte ich mich an keinen einzigen Augenblick erinnern, in dem er so wach, so zufrieden, so beinahe vergnügt gewirkt hatte. »Das war ein Kamerad«, erklärte er feierlich. »Ein Kamerad, der uns jüdische Frontkämpfer nicht vergessen hat.«
    »Lieber Franz, du siehst momentan nicht eben aus wie ein Frontkämpfer«, erwiderte Mamu nachsichtig. »Woher hätte er das wissen sollen?«
    »Er wird sich an andere Juden erinnert haben, mit denen er im Schützengraben gelegen hat«, antwortete Papa. »Wer damals gekämpft hat, hat nicht vergessen, dass wir alle nur ein Ziel kannten: unser Vaterland zu schützen. Unser gemeinsames Vaterland!«, fügte er mit bedeutsam erhobenem Zeigefinger hinzu.
    Ach du grüne Neune!, dachte ich erschrocken. Jetzt geht das schon wieder los …!
    Meine Mutter wechselte in schneller Folge die Farbe. Sie wurde nahezu lila, sie erinnerte an einen Vulkan, auf den jemand einen Deckel drückt. Vorsichtshalber rückte ich ein Stück ab, bevor sie explodierte.
    »Wo waren deine Kameraden, als sie dich verschleppt haben?«, spuckte sie. »Als sie deine Frau und dein Kind auf die Straße gesetzt, als sie uns verhöhnt und gefleddert haben? Du warst im Lager, ich weiß, und es war furchtbar, aber hast du überhaupt eine Ahnung, was Ziska und ich in den letzten Wochen durchgemacht haben? Wie es ist, jeden Tag bei der Gestapo anzukriechen mit noch einem Papier, noch einer Bescheinigung, um immer nur zu hören, dass es nicht reicht? Ganze Tage vor dem Konsulat anzustehen und sich nachher im Bus nicht mal setzen zu dürfen? Zu bitten und zu betteln und zu flehen, um unsere Reisekosten von unserem eigenen Konto abzuheben? Sie konnten uns nicht einmal mit Anstand aus dem Land werfen, Franz. Von deinen sogenannten Kameraden, deinem ganzen verdammten Vaterland ist nichts mehr übrig, begreif das endlich!«
    »Wenn dieser Mann nicht gewesen wäre …«, begann Papa erneut, obwohl er bei Mamus atemloser Rede blass geworden war.
    »Dieser Mann hatte nur ein Interesse: uns so schnell wie möglich loszuwerden!«, zischte Mamu.
    Stille senkte sich über unser Abteil. Dies war eine Diskussion, wie meine Eltern sie seit Jahren führten, und dass Papa am Ende eingelenkt hatte, musste bei Mamu die Annahme geweckt haben, sie hätte gewonnen. Im tiefsten
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