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Nanking Road

Nanking Road

Titel: Nanking Road
Autoren: Anne C. Voorhoeve
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entronnen waren, so eng und laut fand ich es mit einem Mal in unserem Abteil.
    Über die Füße seiner Eltern hinweg kletterte Mischa zurück auf den Platz mir gegenüber. Er hatte ein blasses Gesicht, dunkle Haare und eine kreisrunde Brille, die ihn klug und ein wenig besserwisserisch zugleich aussehen ließ.
    »Ich habe noch etwas, das euch gehört«, erinnerte ich mich und zog den Apfel hervor.
    »Ach«, meinte Mischa, »den hättest du auch behalten können.«
    Aber er nahm den Apfel doch, wischte ihn am Ärmel ab und biss herzhaft hinein. Gemächlich rollte der Zug am letzten Wagen des Kindertransports vorbei und gab den Blick frei auf den Bahnsteig direkt dahinter.
    »Mamu!«, rief ich aufgeregt.
    Onkel Erik hatte die kluge Idee gehabt, sich zum Winken unter die Wartenden am Ende des anderen Bahnsteigs zu mischen – weit genug entfernt vom Zug nach Genua, aber bei der Ausfahrt zumindest für Augenblicke sichtbar. Schon war ich erfreut auf die Füße gesprungen, um das Fenster aufzureißen, als ich plötzlich entdeckte, dass mein Onkel nicht allein stand. Ein Mann war dicht neben ihm, mit dem Rücken zu uns, ich sah einen grauen Mantel, einen Hut. Eine Hand, die sich fest um den linken Arm von Onkel Erik gelegt hatte.
    »Mamu!«, wiederholte ich entsetzt.
    Aber die Erwachsenen redeten in ihrer Erleichterung so laut durcheinander, dass sie auf mich gar nicht achteten. »Was ist denn?«, fragte Mischa.
    Ich setzte mich wieder hin, der Zug nahm Fahrt auf. Wir wurden schneller und schneller und rollten an den ersten Bäumen des Tiergartens vorbei.
    »Was?«, fragte Mischa noch einmal.
    »Nichts«, erwiderte ich.
    Es war nur eine Sekunde gewesen. Eigentlich hatte ich fast nichts gesehen. War der Mann, der auf dem Bahnsteig festgehalten wurde, überhaupt Onkel Erik gewesen?
    Ich musste mich einfach getäuscht haben.

3
    Bekka hätte sich eher die Zunge abgebissen, als es zuzugeben, dennoch wusste ich, wie glühend sie mich beneidete. Eine Reise von über vier Wochen auf einem Ozeandampfer, vorbei an Ländern mit Namen wie aus Märchenbüchern, an Delfinen und fliegenden Fischen! Sie selbst würde in gerade mal dreißig Stunden in England angekommen sein.
    »Wie viel davon auf See?«, hatte ich gefragt.
    »Vier Stunden«, gestand sie ein wenig mürrisch.
    Ich hoffte für sie, dass wenigstens ein kleiner Sturm auftauchte, damit ihr der Hopser über den Ärmelkanal überhaupt in Erinnerung blieb.
    Um die Begegnung mit dem Wiesel hätte meine Freundin mich womöglich auch beneidet – jetzt, wo diese hinter uns lag. Um die Fahrt im Liegewagen, Stunde um Stunde mit den redseligen Konitzers, unterbrochen nur von einer unruhigen Nacht, in der es mich auf meiner oberen Liege durchrüttelte. Angestrengt hielt ich Tuchfühlung mit der Wand und überlegte, ob ich bei einer Vollbremsung auf dem Boden oder der gegenüberliegenden Pritsche landen würde. Ich war überzeugt, Bekka hätte jede Sekunde genossen.
    Vielleicht sogar den Grenzübertritt am Brenner, als alle Juden, während die deutsche gegen eine italienische Lok ausgetauscht wurde, den Zug verlassen und vor dem Zollhäuschen Aufstellung nehmen mussten. Gewissenhaft verglichen die Zollbeamten den Inhalt unserer Koffer mit den mitgeführten Listen, ließen sich Zeit, ließen uns zittern, ließen den Expresszug ohne uns abfahren.
    Gelähmt vor Schreck blickten wir dem Zug nach, der sich zwischen zwei Berghängen um die Kurve wand, Fahrt aufnahm und verschwand. Nur ein paar Dampfwölkchen hingen noch für Augenblicke in der Luft, und ein letzter höhnischer Pfiff der Lok, schon weit entfernt.
    Die Wand aus schmutziggrauem Fels und Nadelbäumen, die sich neben dem Bahnhofsgebäude auftürmte, schien noch etwas näher zu rücken. Schnee rieselte von den Baumwipfeln, selbst die Natur schien den Kopf zu schütteln über unsere Dummheit.
    Habt ihr wirklich geglaubt, ihr kommt davon?
    Bekka, die meine Reise bis ins Detail studiert hatte, hätte es sicher gewusst: »Vom Brenner kommt man auch mit Nahverkehrszügen weiter und hat noch viel mehr vom Panorama!«
    Konitzers und wir und ein Dutzend weiterer stehen gelassener Juden mussten das erst einmal unter großer Aufregung herausfinden.
    »Das Schiff geht erst übermorgen«, wiederholte Mamu ein ums andere Mal, »wir schaffen es also nicht nur rechtzeitig nach Genua, sondern sparen uns vielleicht sogar eine Übernachtung!«
    Papa wanderte vor dem Gebäude auf und ab, in regelmäßigen Abständen schwebte sein vornüber gebeugter
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